Von den sogenannten „Verbrechen“ des Atheismus
Was wird sein, wenn der Glaube einmal gegenstandlos geworden sein sollte? Wie könnte eine religionslose Gesellschaft aussehen? Ist zu erwarten, daß die Übel der Welt, die uns heute bedrängen, geringer sein werden?
Nein, heißt die Antwort, gefolgt von dem Hinweis auf die Leichenberge, die der „gottlose“ Staat bisher produziert hat, und von hier ist der Fingerzeig auf die monströsen Verbrechen a la Stalin nicht weit. Dieser „Staatsatheist“, eine monströse Gestalt wie Hitler, ist das Menetekel, daß wir uns nicht notwendigerweise eine Verbesserung einhandeln werden, möglicherweise in viel schlimmere Zustände abgleiten werden. Und also, so die implizite Empfehlung, können wir besser mit den Übeln leben, die uns bekannt sind, als Risiken einzugehen, die wir gar nicht abschätzen können.
Um hier einen Ausweg zu weisen, kommt nun ein dritter und führt an: alles hat seine Berechtigung, das eine soll neben dem anderen wohnen, und die letzendliche Entscheidung über das Wesen der Sache lassen wir offen.
Damit ist nun nicht das erreicht, was der Atheist einstmals im Sinne hatte. Es fehlt die Bestätigung für die „Richtigkeit“ seiner Entscheidung, und es fehlt das emotional befriedigende Moment, der Lohn der unter großer Anstrengung vollbrachten Tat. Je nach den Umständen hat er sich sogar verschlechtert, weil er zusätzlich den sozialen Druck des Außenstehenden ertragen muß, unter dem Stigma des schwertschwingenden Priesterschlächters.
In dieser Ratlosigkeit verklammert er sich weiter in seinen Gegner, wodurch sein Gemütszustand sich aber keinesfalls bessert, vielmehr das Aggressionspotential, ohne das er sich ja vom Glauben nicht hätte lösen können, beständig steigt.
Dabei hat er die schöne Belohnung seiner Tat längst in der Tasche, er hat nur nicht den Sinn, sie zu erkennen. Und so bleibt die Ursache seiner Unzufriedenheit bestehen. Es ist der Umstand, daß er auf halber Strecke steht, aber nicht weiterkommt, weil er die Situation nicht erkennt.
Beginnen wir einmal mit dem schwertschwingenen Priesterschlächter, ein Vorwurf, der ja so schön handgreiflich und herabwürdigend ist, daß man ihn kaum auslassen kann, um den Atheisten in seiner Position zu erschüttern. Im Anschluß möchte ich auf das angesprochene Problem der Unzufriedenheit, der halben Bewegung kommen.
Es ist eine intellektuell zweifelhafte Methode, eine sehr komplexe Metapher neben ein paar nichtssagende Hinweise zu setzen, um so einen Sinnzusammenhang herzustellen, ohne ihn im Anschluß gründlich zu belegen. Diese Methode steht in der Nähe der Propaganda, und daher wollen wir doch einmal nachsehen, ob sie (was ja möglich wäre) vielleicht doch ihre Berechtigung findet.
Ich erinnere mich noch sehr gut an mein Erstaunen, als ich mich vor vielen Jahren näher mit der Geschichte der Sowjetunion beschäftigt habe. Als Mitglied einer Gesellschaft, deren Presse gebetsmühlenhaft den Kampf gegen den Sowjetkommunismus geführt hat, hatte ich genau die feste Vorstellung im Kopf, die oben angesprochen ist. Aber so sehr ich auch danach suchte, wonach denn sonst mehr, nichts davon findet sich. Die Verhältnisse sind nicht nur differenzierter, sie sind auch in ihrer Gesamttendenz dieser Propagandabehauptung nicht adäquat.
Nun kann man sagen: wen interessiert das heute noch! Es interessiert unter dem Gesichtspunkt der Redlichkeit, und es ist ein im Zusammenhang mit dem Atheismus unverzichtbarer Bestandteil, weil die darin verborgenen Bezugsmomente aktueller sind, als man denken mag. Man wird an diesen verfemten Orten grundsätzlich mit höherer Wahrscheinlichkeit weiterführende Erkenntnisse gewinnen, als wenn man den prächtigen Alleen des Mainstream folgt.
Jossip Dschugaschwili, genannt Stalin, wäre in der Geschichte eine ganz unbedeutende Person, wenn er nicht durch besondere Fähigkeiten, die Gunst der Umstände und den überraschenden Tod Lenins in die Lage gekommen wäre, die Macht zu ergreifen. Die Geschichte wäre, wären diese Umstände nicht alle im richtigen Augenblick zusammengefallen, ganz anders verlaufen, und daher ist schon jede grundlegende Behauptung über „den Sowjetkommunismus“ eine recht fragwürdige Angelegenheit, sofern sie die historische Zufälligkeit zur Bezugsgröße wählt.
Insofern ist es mit ein paar Bemerkungen, der Stalin tat dies oder jenes, nicht getan, denn in diesem Falle tun wir nichts anderes, als bei der eben angeführten Methode kritisiert wurde. Es versteht sich, daß Stalin in seinem Umfeld gesehen werden muß, in dem Umfeld der russischen Revolution.
Die Frage ist ja nicht, was hat Stalin getan oder nicht, sondern inwieweit eine Verknüpfung zum Atheismus besteht, und wie die Wirkung einer solchen einzuschätzen wäre.
Der Zusammenhang ist aber noch grundlegender, denn er ist kein rein historischer, sondern wir gelangen zwangsläufig in die Ideologie hinein. Es ist schlecht erkennbar, wie wir eine solche Abwägung vollziehen wollen, wenn wir nicht das auslösende Moment in die Betrachtung mit einbeziehen, den sattsam bekannten und zur Halskrause heraushängenden Marxismus.
Ein Mann widmete sein ganzes Leben unter großen Entbehrungen keiner anderen Aufgabe, als die Grundlagen der Gesellschaft neu zu durchdenken. Ein Idealist, ein Getriebener, der Zeit seines Lebens angefeindet wurde. Heraus kam ein großes Werk, das man heute als „historisch widerlegt“ bezeichnet. Wie wenig zutreffend diese Ansicht ist, in welcher Weise eine ständige Wechselwirkung zu den aktuellen politischen und gesellschaftlichen Vorgängen besteht, kann sich der Atheist zu betrachten nicht verkneifen, wenn er sich denn von dem Schuldvorwurf eines Priesterschlächters befreien will.
Es ist ja kein größerer Gegensatz denkbar als der zwischen einem armen Verfemten in einer Züricher Emigrantenwohnung und dem Roten Zaren in Moskau, Herr über ein Weltreich. Dazwischen liegen nicht nur Welten, man kann sich das überhaupt nicht recht denken, wie so etwas möglich sein soll. Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, erscheint als eine platonische Figur, der mit nichts in der Tasche als einer Idee sozusagen im Vorübergehen eben dieses Weltreich eroberte, und es hilft auch wenig, wenn man behauptet, das sei eine historische Notwendigkeit gewesen. Daß Lenin keine platonische Figur gewesen ist, nicht nur weil diese Vorstellung in sich absurd ist, möchte ich nur kurz andeuten: Lenin war derjenige, der in einem brodelnden Kessel den ausbrechenden Gewalten eine Richtung gab, sie kanalisierte und in einem ihm vorteilhaften Zustand überführte. So einfach kann das sein, wenn man zur rechten Zeit am rechten Ort die Situation richtig erfaßt. Tatsächlich ist nichts in der Geschichte wiederholbar noch notwendig, und wäre der emigrierte Wladimir von einer Straßenbahn in Zürich überfahren worden, dann hätte es eine solche Umwälzung in dieser Form nicht gegeben.
Der Marxismus liegt auf dem Friedhof der Weltgeschichte, und man mag den oben beschriebenen Eindruck der unnützen Leichenfledderei haben. Allerdings fördert die Leiche doch einige hochinteressante Umstände zutage.
Der Marxismus hat drei grundlegende Bestandteile, von denen die zweiten beiden vor Augen liegen: die Analyse der gesellschaftlichen Struktur. Und der Historischen Materialismus, der prophetische Teil, der die Diktatur des Proletariats als historische Notwendigkeit voraussagt.
Es wird wohl keiner abstreiten, daß Marx den Kapitalismus angegriffen hat, das System, die herrschende Klasse. Dieser Blick ist mehr als oberflächlich. Tatsächlich hat Marx nicht das System angegriffen, er tat etwas viel schlimmeres, er legte seinen Finger an die tiefsten Fundamente der Macht, nämlich an die Tabunormen der Kultur, die tausende Jahre zurückgreifen.
Zunächst aber einmal die erste, die am wenigsten beachtete Komponente, die man so leicht übersieht, und daher dem Verständnis der Sache nicht näherkommt. Das erste Anliegen, das Marx an uns stellt, ist ein Angriff auf unser liebstes Gut, unsere Denkgewohnheiten. Er mutet uns eine Umkehrung zu, indem er sagt: Anstatt daß das eine das andere bedingt, bedingt das andere das eine.
Ich erinnere mich noch sehr gut an den Moment, da ich als Schüler, es liegt mehrere Jahrzehnte zurück, zum ersten Male mit der Marxschen These in Berührung gekommen bin. Es war eine Grafik, eine halbmondförmige Erhebung über einer Linie, und sie besagte, daß die gesellschaftlich-politischen Verhältnisse (der Halbmond) eine Funktion der ökonomischen Grundlage (der Linie) sei. Ich erinnere mich auch noch, als sei es gestern gewesen, an meine Reaktion (was ja erstaunlich ist, da der genervte Schüler seinen Unterrichtsgegenständen gewöhnlich keine gesteigerte Aufmerksamkeit entgegenbringt).
Sozusagen vor meinem geistigen Auge rief ich aus: was für ein absurder Quatsch!
Was ich aber meinte (und worüber ich mir viel später klar wurde), war etwas ganz anderes. Ich wollte nämlich eigentlich sagen: wie eklig! Und diese marxistische These hielt ich noch lange Jahre als emotional negativ besetzt im Kopf, eben als eklige Absurdität.
Der Grund für diese erstaunliche Reaktion (eines durchschnittlich eifrigen Schülers) ist darin zu finden, daß Marx hier an die tiefsten Fundamente der Psychologie herangeht. Er unternimmt nämlich nichts anderes als einen Mord an dem platonischen Seelenwesen.
Genau hiermit löst er einen Reflex aus, der den katholischen Schüler automatisch veranlaßt, eine emotionale Scheuklappe vorzulegen. Aus diesem Grunde haben sehr viele Leute den Marxismus als Vorstellung zwar präsent, aber nicht verstanden.
Denn wenn man der Sache weiter auf den Grund geht, dann sagt Marx folgendes: unsere Gesellschaft ist eine Konstruktion, deren Funktionsweise von den Verhältnissen der Materie bestimmt ist. Unsere Willensfreiheit ist Einbildung, die Krone der Schöpfung, der Mensch, ist eine Abbildung der materiellen Strukturen.
Das ist der Frontalangriff auf die platonische Vorstellung vom Seelenwesen. Und weil wir von dieser Vorstellung durch und durch durchdrungen sind, setzt hier die emotional gesteuerte Inhibition ein, wie sie in uns angelegt wurde.
Diese zentrale Aussage des Marxismus ist in keiner Weise überholt. Vielmehr deuten alle naturwissenschaftlichen Befunde darauf hin, daß es sich genau so (und eben nicht anders) verhält.
Den empirischen Beweis entnehmen wir aus einem anderen Bereich, der, wie man uns sagt, natürlich nicht damit zusammenhängt, aber eben doch, nämlich dem allgemeinen Gesetz der Ökonomie, wie es sich in der Evolution darstellt. Von der Vorstellung des Einzellers ausgehend, können wir uns das sehr anschaulich klar machen: wenn schon der Einzeller unter dem Gesetz der Ökonomie steht, nämlich die benötigten Nahrungsstoffe aus der Umwelt zu erlangen, zur Erhaltung des Systems, dann ist alles weitere, was aus diesem Einzeller entstanden ist, ein Abbild der ökonomischen Gesetze. Eine Creatur, die diesem Gesetz nicht entspricht, kann es von daher nicht geben, weil sie augenblicklich zugrunde gegangen wäre.
Wären die Bestimmungen der Ökonomie ein klein wenig anders, so sagt dieser Gedankenansatz, dann gäbe es heutzutage zwar möglicherweise irgendwelche Lebewesen, die ihren Gott anbeten, der die Welt nach seinen Ideen geschaffen hat, aber diese Lebewesen hätten mit dem rezenten Menschen sehr wenig gemeinsam. Ihr genetischer Code würde in erheblicher Weise von dem unseren abweichen.
Das eine bedingt nicht das andere, sondern das andere das eine. Es ist dieselbe gedankliche Schwierigkeit, und der Grund, warum sich manchen Leuten die Evolutionstheorie verschließt, ist eben nicht, daß sie sie nicht verstehen könnten, sondern daß die Denkhemmung automatisch in Kraft tritt. Daher hat man fast regelmäßig das Gefühl, hier redeten die Leute aneinander vorbei. Das Gefühl ist richtig, sie können nicht zueinander kommen, solange diese Klinke nicht erkannt ist.
Dieses allgemeine ökonomische Gesetz hat Marx auf die konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse übertragen, und gewissermaßen ist der Angriff auf den dort beheimateten Kapitalismus nur ein Abfallprodukt eines viel grundlegenderen Gedankens. Auch wenn er von daher inspiriert war: welches System immer sich dort zufällig aufgehalten hätte, wäre von dem Diktum getroffen worden.
Man versteht, mit welcher Inbrunst man bestrebt ist, den Marxismus zu beerdigen. So wie Himmler eine unglaublich kostenintensive Operation in Auftrag gab, das Warschauer Ghetto bis auf die Grundmauern niederzureißen und zu bepflanzen, was die Deutsche Finanzkraft, mitten im Krieg, 125 Millionen Reichsmark kostete.
In der Nähe der kulturellen Tabus finden sich stets ungeheuerliche Aufregungen .
Welches kulturelle Tabu war es nun, das Marx in Angriff nahm? Es ist das aus grauer Vorzeit resultierende Gesetz des unbeschränkten Eigentums. Das hört sich harmlos an, ich will das daher einmal umformulieren:
Daß einer alles, die anderen nichts besitzen.
So hört es sich schon weniger harmlos an. Man könnte die Geschichte der Menschheit als einen mit dem allergrößten Aufwand betriebenen Versuch beschreiben, dieses Gesetz zu tabuisieren, es aus dem Bereich der rationalen Überlegungen fernzuhalten, jede Überlegung in diese Richtung zu inhibieren. Und den Wettlauf der Systeme als den Versuch, dieses Problem mit dem geringstmöglichen Aufwand und dem größten Ertrag zu lösen. Insofern ist der Kapitalismus „effizient“.
Wie perfekt diese Methode funktioniert, habe ich oben nicht ohne Grund als Erlebnis aus meiner Schülerzeit beschrieben.
Wir finden das Modell dieser Methode in unserem Kulturkreis als den platonischen Dualismus, die Trennung von Leib und Seele, von Geist und Materie. Es wird klar, schon von der Definition her, worauf Marx abzielte. Platon ging aber noch weiter. An seinem Modell des Staates wird vieles klar, insbesondere aber der tiefenpsychologisch begründete Vorschlag, daß dieses Kunstprodukt frühzeitig in die Seelen der Heranwachsenden verankert werden müsse, spricht Bände. Eine Idee, die künstlich erzeugt wird, muß zunächst implantiert und dann am Leben erhalten werden, koste es, was es wolle. Aber es darf eben nicht soviel kosten, das besagt die Ökonomie, daß der Aufwand größer ist als der Ertrag.
Man versteht, daß dieser Philosoph einer der größten des Abendlandes wurde, und daß die Kleriker aller Zeiten ihm begierig die Brosamen aus der Hand gerissen haben.
Denn wenn man nun von daher den zweiten Schritt macht und sich eine Religion vorzustellen versucht, so muß man nicht das Christentum betrachten, sondern ausgehend von der Vorstellung: nicht das eine bedingt das andere, sondern das andere das eine, liegen die Anforderungen für an jede denkbare, geeignete Religion auf der Hand: sie muß in der Lage sein, die Herrschaft über die Psyche des Heranwachsenden möglichst vollständig auszuüben und dieses virtuelle Substrat anschließend am Leben erhalten.
Wenn wir nach dieser Überlegung auf das Christentum blicken, können wir uns die weitere Analyse sparen. Insbesondere erübrigt sich die Exegese.
Wir befinden uns beim Anblick des Atheisten auf den Marxismus und auf die Fundamente der Herrschaft. Von hier möchte ich weitergehen auf den Aspekt, worin denn nun das atheistische Moment des Marxismus besteht, und in welcher Weise es sich auswirken muß.
Da ich den religionskritischen Teil des Marxismus nicht kenne, weil er mich niemals interessiert hat, möchte ich hier hilfsweise von dem wohl bekanntesten Zitat zu diesem Gedankengang ausgehen:
Religion ist Opium für das Volk.
Hier spürt man schon den fundamentalistsch orientieren Gläubigen aufheulen, und der Zyniker mag seine Mundwinkel etwas verziehen, aber die emotionale Komponente verdeckt doch leicht den ursächlichen Zusammenhang. Das ist eben das Wesen der Propaganda, daß sie die Gehirnfunktion inhibiert.
Zunächst einmal sieht es nach einer ungeheuren Beleidigung aus, nach einer Entmystifizierung, einer Entweihung, einer üblen Nachrede, Hetze. Wir sollten uns von diesen Begriffen lösen. Was Marx eigentlich sagt, ist etwas ganz anderes:
Religion ist ein schädigendes Agens.
Der Blick wird klarer. Wir haben es hier mit einem hygienischen Problem zu tun. Das wird die Wut des Fundamentalisten keinesfalls verkleinern, aber wir kommen doch nicht umhin, folgende Feststellung zu treffen:
Hier ist nicht der schwertschwingende Priesterschlächter angesprochen, sondern der Marxist geht um und sagt: die Schädigung ist vom Volke zum Zwecke der Gesundung fernzuhalten. Darin liegt kein Haß, so wenig wie wir einen Virus „hassen“. Es liegt darin die ganz rational gegründete Entschlossenheit zur Volksgesundheit. Es ist das, was man in Auschwitz aus der Konfliktsituation jederzeit zu rationalisieren suchte, ein sauberer, humanistischer Ansatz.
Von hier aus kann ich mir eine etwas provokante Abschweifung nicht verkneifen:
Was wäre, wenn der Marxist mit den Priestern aushandeln würde: ihr habt geglaubt, den Leuten zu helfen, aber Religion macht sie krank. Wie die Verhältnisse sind, könnt ihr euren Laden schließen. Und die Priester würden sagen: ja wenn das so ist ...
Dann wäre die Sache erledigt, und das aggresive Element hätte sich in nichts aufgelöst.
Jeder wird nun sagen: wie absurd! Weil das Thema emotional besetzt ist, will ich darauf nicht weiter eingehen.
Die kirchenfeindliche Komponente des Marxismus ist nicht die der dämonischen Scheiterhaufenszenerie, sondern eine therapeutische. Von daher sollte zu erwarten sein, sofern nicht gerade ein völlig Geistesgestörter von dieser Methode Gebrauch macht, daß die Auseinandersetzung mit dem Klerus historisch eben nach diesem Ansatz erfolgt ist.
Und genau das finden wir, in wesentlichen Zügen, vor.
Lenin hätte der größte Heilige der Weltgeschichte sein können, seinem Atheismus ableugnen können, und doch hätte es ihn nicht vor den praktischen Konsequenzen dessen bewahrt, was eine Revolution eben an Sachzwängen mit sich bringt: die Ausschaltung der politisch wirksamen gegnerischen Kräfte.
Schon von daher ist eine Auseinandersetzung mit der Kirche nicht zu vermeiden, weil eben jede Kirche sich mit der Macht verbandelt, und wenn sie das nicht tut, untergeht. Jedenfalls finden wir historisch nichts anderes.
Ich muß aus dem Gedächtnis heraus schreiben, und kann das nicht mit Zahlen belegen, aber mein sicherer Eindruck nach so langer Zeit ist derjenige, daß Lenin den Kampf mit der Kirche eher zögerlich und wenig konsequent, also taktierend, führte. Es mag als hilfsweiser Beleg durchgehen, wie wenig die Dinge bei seinem Tode geregelt waren, daß Stalin überhaupt in die Notwendigkeit gesetzt wurde, diese Konfrontation weiterzuführen. Wesentliche Teile des Klerus waren also noch in Funktion, und das sollte doch schon ein sicherer Hinweis darauf sein, daß der priestermordende Schwertschwinger eben eine Phantasie ist, das Produkt einer Propaganda.
Denn wenn wir die Auslöschung der Juden dagegen in Bezug setzen, so hat Hitler in wesentlich kürzerer Zeit mit einer um Dimensionen größeren Aggresivität gemordet, als Lenin das jemals tat. Der Grund ist darin zu finden, daß Hitler der Prototyp einer dem platonischen Typus entsprechenden paranoiden Persönlichkeit war, von Haßgefühlen und inneren Zwängen getrieben, und daher noch bis zur letzten Sekunde die Vernichtung der Juden betrieb. Anders gesagt, ging er von der Maxime aus, der Staat hat die Interessen auszuhalten, die ich ihm auferlege (Primat der Idee vor der Materie). Dazu paßt die Darstellung Haffners, daß er den Untergang des Staates, des Volkes, als rituellen Abschluß durchaus in Kauf nahm, ja begrüßt hätte.
Wie anders Lenin! Ein ganz emotionslos arbeitender Taktierer, der die Interessen des aufkeimenden Sowjetimperiums jederzeit über ideologische Phantastereien stellte, und in dessen Konzept der Kampf gegen die Kirche den ihm zustehenden Rang einnahm, aber eben nicht im Sinne eines Maximums, sondern des kleinstmöglichen Verdrusses. Es mag hineinspielen die militärische Schwäche des Sowjetstaates oder die sehr kluge Erkenntnis, wie leicht die Gegenseite beim Bekanntwerden von Gräueln hätte emotionalisiert werden können. Das rationalistische Element Lenins steht in ganz auffälligen Kontrast zu der Scheiterhaufen-Dämonie eines Hitler.
Nun zu Stalin.
Es wurde gesagt, die Tatsache seines Atheismus sei die Voraussetzung seiner Karriere gewesen. Dazu muß erwidert werden, daß die Tatsache einer Zugehörigkeit einer Massenpartei ein ganz unwesentliches Element ist, kein welthistorisches Ereignis, und eine Koppelung des Atheismus mit den Taten des späteren Diktators methodologisch, logisch und historisch nicht erlaubt. Der springende Punkt ist Stalins Griff zur Macht, und dieser Vorgang ist von konfessionsbestimmten Einflüssen ganz unabhängig. Aus den Lebenserinnerungen Trotzkis wissen wir, daß Stalin seine Position durch Machtspiele und Intrigen errang, daß er die Ideologie ganz verachtete, sie ihm Werkzeug war zu seinem Zwecke der Erringung der totalen Macht. Sein Machtkonzept war ein anderes als Lenin. Lenin runierte den Marxismus gleich zweifach. Einmal dadurch, daß er die Oktoberrevolution nicht als Revolution, sondern als Putsch durchführte, nämlich die breite oppositionelle Mehrheit ausschaltete zugunsten einer ganz kleinen Clique von Bolschewisten des inneren Führungszirkels. Zweitens: wenn jemals, wenn nicht nach dem Spätsommer 1917, als der militärische Putsch der alten Kräfte gescheitert war, hätte sich denn die Gültigkeit des HistoMat besser erweisen können? Man hat auf die Fixierung Lenins auf Deutschland hingewiesen, und der Gesichtspunkt ist hier auch nicht weiter von Bedeutung.
Man kann sagen, Lenin installierte eine Oligarchie, was dem Konzept des Marxismus als drittes schon nicht entsprochen hätte, aber meine Kenntnisse des Marxismus sind in dieser Richtung nicht ausreichend.
Stalin hingegen hatte von Anfang an ein ganz anderes Machtverständnis, nämlich die größtmögliche Konzentration der Macht in seiner Hand. Inwieweit das dem Konzept des Marxismus entspricht, kann ich nur erahnen. Ich ahne, daß es so nicht vorgesehen war. Jetzt haben wir es also mit dem vorgeblichen schwertschwingenden Priestermörder zu tun, dessen Schuld dem Atheisten aufgebürdet werden soll (und wenn nicht explizit, dann implizit, was viel schlimmer ist). Zu dieser Orgie von Gewalt, die Stalin nun entfesselte, in die der Krieg hineinstieß, der die letzten sittlichen Werte einer völligen Verrohung überantwortete, gefolgt von einer Orgie von Mord, Deportationen und sonstiger Verbrechen, die das sittliche Fundament des ganzen Volkes völlig ruinierten, ist zu sagen, daß der Untergang der Kleriker auf dieser übergroßen Schippe des Todes keine erkennbare Spezifität besitzt. Sie ist so gut wie gegenstandslos. Wenig bekannt sind die ungeheuerlichen Verbrechen in der Ukraine, was aber nicht unser Thema ist.
Aus den Erinnerungen Trotzkis kann ich Stalin als einen Typus des Berufspolitikers rekonstruieren, einen reinen Taktierer der Macht, und ich finde keinen Hinweis auf ideologische Verblendung und übergroßen Haß dem Klerus gegenüber.
Was Stalin hinterließ, spiegelt sich im heutigen Zustand der Sowjetunion: ein in der großen Masse verrohtes Volk, das sich aus dem Zustand der kollektiven Zwangsneurose noch nicht wieder befreien konnte. In diesen Zusammenhang paßt das Zitat eines deutschen Funktionärs, der in das Auschwitz-Szenario eingebunden war: haben Sie die Augen der Männer gesehen? Die sind ja vollkommen erschüttert. Mit welchen Leuten wollen wir nach dem Krieg weitermachen? Sie hinterlassen uns nur Nervenkranke und Rohlinge! Immerhin, dieser deutsche Offizier hatte noch das Auge, wie auch ein anderer:
Die Juden aus Deutschland, so sagte dieser hohe Funktionär zu einem der Auschwitz-Exekutoren, der ihm unterstellt war, empfinde er noch als Menschen, weil sie aus seinem Kulturkreis stammten. Hingegen die Kommandos als Irre und Sadisten, die bei den Erschießungen ihre sexuellen (!) Triebe auslebten. Das klingt verdächtig nach Freud, es mag aber auch der unmittelbaren Anschauung entsprungen sein, daß die von der Historie totgeschwiegenen Orgien häufiger stattgefunden haben, als man wahrhaben will. Der Untergebene beschwerte sich, was sehr aufschlußreich ist, in dem Sinne, daß seine schwierige Arbeit nun noch mit Schmutz beworfen werde ...
Alle diese schwertschwingenden Phantasien darf man mit größerer Berechtigung der Holocaust zuordnen, als ausgerechnet Stalin. Sie machen dort historisch keinen Sinn. Wenn wir die Stalinistische Strategie in der hier angesprochenen Weise kennzeichnen wollen, dann muß man sagen, daß hier etwas neueres geschah als in Auschwitz, weil nämlich der Massenmord emontionslos stattfand, auf dem grünen Tisch hin- und hergeschoben wurde, zum Zwecke der Sicherung der Alleinherrschaft. Allerdings steht Stalin darin in der Tradition derZaren, insbeondere Peters des Großen, welcher doch immerhin eine von starken antiklerikalen Zügen geprägte Strategie verfolgte, ohne daß er darum Atheist hätte gewesen sein müssen. Die Verhälnisse eines Riesenreiches, die Materie, bedingen die Möglichkeiten.
Ich finde diesen Gesichtspunkt des Themas an dieser Stelle mehr als ausreichend behandelt und möchte den schwertschwingenden Priesterschlächter dem Müllhaufen der Geschichte überantworten, wohin er gehört.
Unsere Ausgangsüberlegung war die Frage nach der „Schlechtigkeit“ des Atheismus, die diesem ja vorgeworfen wird.
Ich möchte aber insofern auf die Argumentation der Gegenseite eingehen, als damit ein Problem angesprochen wird, das man nicht einfach für nichtexistent erklären kann.
Man führt gern an, den Schwierigkeiten der Konfessionslosen sei ohnehin mit der Ablösung von Gott genüge getan, man möge nicht noch politische oder sonstige Forderungen mit diesem Vorgang verbinden. Von anderer Seite fügt man hinzu, der Atheismus sei eben keine Weltanschauung und als solcher überhaupt nicht angreifbar.
Dem gegenüber steht eben der angesprochene Sachverhalt. Und mir scheint es unredlich, dem nicht insofern zuzustimmen, als daß der Atheist keine platonische Figur sein kann, die gewissermaßen außerhalb von Raum und Zeit durch das Universum kreist, Gott verleugnend.
Natürlich besteht eine gewisse Gefahr, den Atheismus nun als „Glauben“ anzunehmen, und ich werde noch mit einiger Ausführlichkeit versuchen darzustellen, was die Momente der Gefahr sind. Und natürlich ist der Vorwurf nicht so ganz aus der Luft gegriffen, der Atheist stehe in gedanklicher Nähe zum gottlosen Staat, worauf folgt, wie wir ihn historisch schon einmal vorgefunden haben. Schließlich ist der Staatenverbund des Sowjetkommunismus das einzige historische Beispiel.
Dazu ist soviel zu sagen, daß hier die Vorstellung des Atheismus, wie oben angedeutet, eine unvollständige ist. Weil die Vorstellung von dem eigentlichen Prozeß fehlt, verklammert sich nun der Atheist dermaßen in der Gegenseite, aus Ratlosigkeit und von seiner Aggression getrieben, daß die üblen Folgen in die Nähe der Wahrscheinlichkeit rücken.
Wenn wir ein wenig von der Lösung des Problems vorwegnehmen, dann haben wir es mit dem bekannten Gegensatz der Meinungen zu tun, den beiden Ansätzen des Atheismus, wovon
der starke ist: Ich leugne Gott
und der schwache: Ich löse mich von Gott.
Dieser zweite Ansatz, die Loslösung, ist dasjenige, was wirklich geschieht. Die darüber hinausgehende, überschießende Reaktion, führt notwendigerweise zu einem Dilemma.
Betrachten wir zunächst einmal den starken Ansatz. Ich habe schon an anderer Stelle darauf hingewiesen, daß physikalische Gesetzmäßigkeiten eine solche Aussage gar nicht zulassen. Ich werde im Anschluß aufführen, daß weitere Gründe den beabsichtigten Effekt ganz zunichte machen, und es hier bei der Feststellung belassen, daß der starke Ansatz zu genau dem Problem führt, das der Gläubige hat, nämlich die Ausweglosigkeit, für ein transzendentales Problem den empirischen Beweis zu führen, ohne daß er sich bewußt werden kann, worin sein Problem liegt. Man kommt vom Regen in die Traufe, und der Not ist keine Abhilfe getan. Dieses gilt in einer Weise, und der Gesichtspunkt ist eigentlich nebensächlich, weshalb er nur der Vollständigkeit halber erwähnt sei.
Der schwache Ansatz führt uns wieder zurück zum Priesterschlächter, aber in einer Weise, daß sich der Kreis schließt. Was der Atheist ja, nach dieser ein wenig tiefergehenden Betrachtungsweise, geleistet hat, ist die Loslösung von einem Zwang. Er hat sich mit großer Anstrengung von Vorschriften befreit, um die Konstitution seines Organismus nicht länger zu strapazieren, und darf sich frei dünken. Daß sich dieses Freiheitsgefühl nicht einstellt, wird unten erörert, aber ganz allgemein gesehen kann man doch folgenden Hinweis geben:
Welches Motiv soll denn den Atheisten, nach einem so nervenaufreibenden Vorgang, nunmehr veranlassen, sich in die Gewalt neuer Zwänge, neuer Vorschriften zu begeben?
Historisch gesehen, ist die Nähe zur kommunistischen Macht, was uns nicht verwundern kann, in den Zeiten des aufblühenden Sowjetkommunismus am größten. Es ist das Phänomen der Heilserwartung, der erfüllten Hoffnungen, die Befriedigung der Einsicht, daß aus den Zwängen ein Ausweg besteht. Rein zahlenmäßig erhalten wir einen Hinweis, wenn wir auf die Stärke des linken Spektrum sehen, das vor der Ebertschen Blutaktion, die regelmäßig in unseren Schulbüchern ganz verkannt wird, die Kommunisten und Sozialdemokraten zusammengenommen als absolute Mehrheit erkennen läßt, und das in einem Land, in dem selbst der Sozialismus schon als absolutes Tabu gegelten hatte.
Man wird heute über diese anfängliche, überschießende Begeisterung lächeln müssen, und wir sollten diesem real existierenden Kommunismus, wie er in der Sowjetunion Gestalt fand, keine Träne hinterherweinen. Dieses Modell hat aber mit den Grundgedanken des Marxismus wenig zu tun. Es zeigt uns, und auch hierin Zustimmung zu den Argumenten der Gegenseite, daß beinahe jede Idee, die die Massen hypnotisiert, in einer Weise pervertiert werden kann, das Gemeinwesen in einen katastrophalen Zustand zu führen und die allgemeine Moral vollständig zu destabilisieren.
Der Atheist allerdings, als Individuum, müßte sich sagen: dafür habe ich diese Mühen auf mich genommen, daß ich nunmehr einem Etikettenschwindel unterliege und das ganze noch einmal von vorn mitmachen muß? Dazu gehört allerdings ein gewisser politischer Sinn, und den kann man einem Atheisten nicht als naturnotwendigen Bestandteil seiner Weltanschauung unterstellen, umso weniger, als die Ablösung von seinem Gott ihn über die Maßen beansprucht. Die Notwendigkeit ist aber nicht gegeben, und daher möchte ich diesen Gedanken hier nicht weiterführen. Die intellektualistische Komponente ist nämlich gar nicht das Problem.
Kommen wir zu dem noch fehlenden Element, auf Umwegen, was den Text natürlich ausweitet, aber seine Berechtigung darin findet, daß man ein komlexes Phänomen nicht mit drei Worten beschreiben kann, insbesondere nicht, wenn kulturelle Tabus berührt werden.
Der Umweg ist derjenige, an den der Atheist, von hehren weltstürzenden Ideen erfüllt, am wenigsten gedacht hätte: die Sexualität. Nicht in einem höheren Sinne, als der platonischen Liebe, des Eros, sondern im Sinne des real existierenden Tobens der körpereigenen Säfte und Sinne. Die Reaktion ist absehbar, denn nun die höchsten Gedanken mit Schweinkram zu verbinden, das wertet das ganze Gebäude herab zu einer Nichtswürdigkeit. Im übrigen ist, vom rein Logischen her, der Zusammenhang nicht gegeben. Und, man möchte noch hinzufügen, daß nun das hehre Streben noch in den Schmutz gezogen wird ...
Das habe ich bis vor kurzem auch gedacht.
Man muß sich hier vor Augen halten, womit man es zu tun hat. Wenn schon der Zugriff auf das Eigentums-Tabu eine solche beschriebene Reaktion auslöst, dann kann man im Umkehrschluß folgern, daß jede Reaktion dieser Art darauf schließen läßt, daß wesentliche Zusammenhänge berührt sind.
Wenn wir uns einmal fragen, was wir unternehmen, wenn wir erkranken, wird der Widerspruch deutlich: wir gehen zum Arzt. Das ist das natürlichste von der Welt. Problematischer ist es, wenn wir an delikaten Stellen erkranken. Dann stellen wir die Kommunikation darüber ein, aber den Gang zum Arzt unterlassen wir natürlich umso weniger, als uns solche Probleme noch mehr quälen als banale. Wir geraten hier hinein in den Bereich einer Tabuzone, die für manche Personen bei den Hämorrhoiden beginnt, für andere bereits bei einer Warze. Das ist peinlich, man redet nicht drüber.
Wir können ohne Empirik an uns selbst einmal gedanklich ausprobieren versuchen, was geschehen würde, würde uns jemand die Frage stellen: was sind eigentlich deine sexuellen Vorlieben, was sind deine geheimsten sexuellen Wünsche? Die Frage schlägt einem so vor den Kopf, daß man sie nicht glauben möchte, und die Reaktion ist absehbar.
Wenn nun dieser jemand insistieren würde, nur in einer gedachten Weise, welche Strategie würden wir wählen? Der Ausgang ist völlig klar: wir würden dieser impertinenten und peinlichen Situation in der Weise begegnen, daß wir auf ganz allgemeine „Statements“ ausweichen würden, von denen wir vermuten, daß sie die geringste Angriffsfläche bieten.
Warum?
Der Grund ist leicht einzusehen. Würde unserer gedachter jemand nun die Frage in den Raum stellen, daß wir sexuell vielleicht „nicht normal“ veranlagt sind, dann ist die Katastrophe perfekt. Spätestens jetzt haben wir es mit einer gedanklichen Abwehrmaßnahme, mit dem Abbruch des Gedankens zu tun.
Und der frisch gebackene Atheist tritt hinzu und ruft aus: ich habe mir das nochmal überlegt. Mein Gedanke ist die Loslösung von Gott, und meine sexuellen Dinge möchte ich weiter als Tabuzone erhalten sehen. Die gehen niemanden etwas an. Atheismus setzt nicht voraus, daß man sich mit ... wir kennen das schon.
Genau hier liegt der Punkt.
Eigentlich ist der Atheist auf dem richtigen Weg. Aber eben nur eigentlich. Sein hohes Aggressionspotential (ich spreche da aus Erfahrung) müßte ihm sagen: hier ist was nicht in Ordnung. Er könnte erwidern: das ist ganz natürlich, weil ich ja jetzt außerhalb stehe. Das ist eine Rationalisierung, die dem Problem nicht entspricht. Die Lösung ist, er hat den Vorgang noch nicht erkannt, kann sich daher vom Feindbild nicht lösen, und landet daher in einer neuen, unlösbaren Situation.
In diesen Dingen sind wir tatsächlich unmittelbar berührt, und die emotionale Schranke klickt schon bei der Andeutung solcher Fragen ein. Ich möchte das erst mal ganz allgemein angehen und fragen:
Was ist NORMAL?
Wenn wir einmal das Experiment im allgemeinen Sinne fortsetzen, einen anderen jemand hereinlassen und uns anhören, daß abgesehen von unserer Person ein Großteil der Gesellschaft eben NICHT normal veranlagt ist, sondern nach der Sichtweise dieses jemand eben KRANK, dann hätten wir es leichter zu dem Schluß zu kommen, daß
NORMAL = KRANK
Bedeuten muß, weil nämlich, jetzt lächeln wir erleichtert, weil die Anst von uns weicht, wir könnten etwa nicht normal sein, in einer (gedachten) Gesellschaft von Kranken der Gesunde nicht normal sein kann, sondern per definitionem anormal sein muß.
Unsere Erleichterung steigert sich, wenn der jemand nun hinzufügt, daß Normalität einen Gedankenfehler enthält, der auf der fehlenden Kenntnis der Stochastik beruht. Und ohne daß wir uns näher damit befassen wollen, erfassen wir die Lösung recht einfach mit der Erkenntnis, daß schließlich die Menschen um einen Mittelwert herumpendeln, also eine gewisse Variabilität erlaubt ist.
Aber um welchen Mittelwert, und wie weit darf diese Abweichung reichen?
Rein interessehalber, ohne unsere Person verfügbar zu machen in der Überlegung, schreiten wir fort und spekulieren, daß die die Vereinigung der Genitale die evolutionär (wir sind ja Atheisten) wahrscheinlichste Definition von normal sein muß. Sexualität ist ja eine Fortpflanzungsfunktion, und damit ist das Problem gelöst. Wie das aber immer so geht, wenn man sich mit Dingen beschäftigt, die man zuvor gar nicht wahrgenommen hat: dagegen sprechen die erogenen Zonen des Kleinkindes, und auch die seltsame Behauptung, daß die Libido des Mannes ursprünglich gar nicht zur Fortpflanzung, sondern zum Lustgewinn gedient hat, als empirische Befunde. Vor allem aber, wenn wir einmal an unsere sexuellen Phantasien denken ....
Wie immer das auch sein mag, kann man einwenden, es ist eben eine Definition, die das Wesen der Sache vielleicht nicht vollständig klärt, aber doch hinreichend ist.
Das ist ungefähr der Standpunkt des Agnostikers in einer anderen Hinsicht.
Aber nun legt uns der jemand eine Statistik auf den Tisch, in der steht, daß Kinderpornografie, Kindesmißhandlungen, homosexuelle und satanistische Sexualltaten in einem überbordenden Maße bekannt geworden sind. Wären wir gläubig, hätten wir es ja einfach: es sind gottlose Zeiten. Jetzt haben wir allerdings diese Deckung verloren.
Tja, könnte man etwas ratlos hinzufügen, das mag ja so sein, aber was hat das mit Atheismus zu tun?
Und jetzt möchte ich einmal versuchen, diesen delikaten Gedankengang zu einem Abschluß zu bringen, damit sich der Kreis schließt.
Wir betrachten ja diese Phänome als Abweichung von dem Gesunden, wobei wir allerdings feststellen mußten, daß diese Definition doch sehr problematisch ist. Und nach der platonischen Vorstellung (der wir eigentlich entronnen zu sein glauben) müssen wir zugestehen: diese Perversen sind Monster, mit denen uns nichts verbindet, und nur die härtesten Maßnahmen können hinreichend sein.
Aber haben wir uns damit nicht verraten? Ist es nicht so, daß wir gerade davon abrücken wollten, eine mit Zwang verkündete Vorstellung mit Gewalt aufrechtzuerhalten? Tja, irgendwie schon, aber in solchen Fällen ...
Dieses Dilemma durchschlägt Freud nach dem Sinnbild des gordischen Knotens. Wenn wir uns die marxsche Definition des Opiums vor Augen halten, als krankmachendes Agens, dann entsteht die nebulöse Vorstellung, daß Sexualität einen irgendwie gearteten Zusammenhang mit religiösen Vorstellungen haben möge, wie auch immer, aber eigentlich außerhalb des Interesses bleiben müsse.
Freud hat diesen Nebel hinweggefegt. Seine Aussage ist klar, empirisch gegründet, und viel durchgreifender, als das platonische Seelenwesen so eine Schmutzkampagne hätte einschätzen können. Er sagt nicht weniger als daß wenn die kulturellen Normen der Sexualität des Menschen in einer Weise unangemessen sind, daß sie eine Störung bewirken müssen, Erkrankungen in breiter Masse und in jeder Form die notwendige Folge sind. Er sagt weiter, daß man solche Erkrankungen künstlich erzeugen und in einem gewissen Rahmen auch therapieren kann.
Jetzt haben wir immer noch nicht verstanden, worin der Zusammenhang liegen soll. Er erschließt sich allerdings schnell, wenn wir einmal überlegen, was wir als Atheisten soeben geleistet haben:
Wir haben uns von einem Zwang befreit.
Aber doch nicht von diesem?
Formuliert man das um, würden wir die Frage umgehend bejahen. Nämlich als Befreiung von dem Angriff auf die körperliche Integrität, die Unversehrtheit. Nun ist der religiöse Mensch mit einer Masse von Vorschriften belastet, wovon er die große Menge leicht schultern kann, aber das Gebiet der Sexualität entzieht sich dieser Leichtigkeit. Es tobt im Inneren, beeinflußt die Psyche in einer ganz ungezügelten Weise, und hinterläßt Spuren, hinzu kommt der äußere Druck, die ständige Beobachtung. Und wenn die Kultur hier Tabus setzt, die den menschlichen Bedürfnissen nicht entsprechen, dann ist der Mensch keine Sekunde seines Lebens außerhalb des Zugriffs, er hat keine freie Minute, in der er mit sich „allein“ ist, er ist ein Gefangener.
Dem ist der Atheist (jetzt geht es ihm auf) aber soeben entkommen. Also ist der Atheist frei?
Nein, er ist es nicht, weil er diesen ersten Schritt nicht umzusetzen weiß. Er erkennt den Ert nicht. Er ist zu sehr auf die Religion fixiert, als daß ihm auffallen könnte, daß dieser Zwang längst Gesetz geworden ist in seinem Staate. Wenn er diese Zwänge nun unangetastet läßt, dann verschenkt er den Lohn der Mühe, weil es ja zwanglos denkbar ist, daß ein anderes kulturelles System diese Normen in gleicher Weise festlegt, solange man den Zusammenhang nicht herstellt. Die Religion allerdings hat keine Wahl, weil ihr auf diese seit tausenden von Jahren perfektionierte Weise die Gläubigen umso zuverlässiger zufallen, weil aus der aussichtslosen Situation die Heilserwartung die letzte Rettung bietet.
Es ist insoern ein absolutes Kuriosum, daß man mit höchstem Propagandaaufwand Kinderpornografie bekämpft, andererseits genau die Strukturen, die eine freie Entwicklung der Sexualität ermöglichen würden, über die Jahrhunderte unterdrückt hat. Eine Maschine, die mit Beliebigkeit sexuelle Störungen jeder Art produziert, kämpft gegen Windmühlenflügel. Das ist der Freudsche Ansatz, der in seiner Konsequenz allerdings erschütternd ist.
Erschütternd ist es auch, daß heutzutage Gesetzesvorlagen angedacht werden, die die Beschneidung von muslimischen Mädchen in Deutschland als ärztliche Leistung auf Beratungsschein, ganz ähnlich dem Abort, andenken.
Als letztes möchte ich einen Blick in die (im Anfang angedeutete, hypothetische Zukunft werfen), unter einem noch nicht überdachten, also als Denkanregung zu verstehenden Ansatz, den man das Problem der negativen Transformation nennen könnte.
Wenn wir den starken atheistischen Ansatz betrachen:
1.) Es gibt keinen Gott
2.) Es gibt keine Erlösung.
und annehmen wollen, die Religionen seien verschwunden: worin wird dann die Bedeutung der Thesen liegen? Wir haben eine Negativform eines Substrates erhalten, das es einstmals gab. Diese Form ist nunmehr zwar hinfällig, man kann sie aber auch auffüllen und hat damit das Problem, das man überwunden glaubte, neu in die Welt gesetzt.
Wenn wir sagen:
Alles ist möglich, auch Gott,
ist der Effekt nicht sehr viel davon verschieden, denn die Leute in einer gottlosen Welt werden natürlich fragen: was war das, Gott? Ist der auch heute möglich? Oder morgen? Vielleicht sind wir da auf etwas gestoßen?
Wenn wir nach einer positiven Aussagelogik suchen, dann müßte der Atheist sagen:
Das Kennzeichen des um den psychoanalytischen Ansatz erweiterten Atheismus ist seine sorgfältige Obacht auf die Freiheit von Zwängen, die die körperliche Integrität des Menschen bedrohen. Nach dem Wegfall der Religionen könnte er sagen: einstmals gab es einen Zwang namens Gott. Der ist jetzt historisch.
Und: hüte dich vor diktatorischen Systemen und aller Arten von Propaganda. Achte auf Fehlleistungen in deinem Denken, die dir auf den zweiten Blick unerklärlich sind.
Meine nachlassende Konzentration und die Umstände erlauben es mir nicht, das weiterzuführen. Das Wesentliche des Gedankenansatzes wurde allerdings auch gesagt.
Mit freundlichen Grüßen
Dinoaurus
Von Tso Wang am Freitag, den 19. April, 2002 - 15:54: