Ostern ’98

oder
Mein Fernseher heißt Gott

von
Christian Barduhn


„Verliert nicht die Hoffnung – es ist alles verloren!“
(Christoph Schlingensief in TALK 2000)

„Am Arsch!“
(Meret Becker in LIEBE LÜGEN von Martin Walz)


Unumstritten: Seit James Cameron mit seinem Film TITANIC die Mythentüte ein erhebliches Stück weiter ausbeulte, leben wir, ob wir wollen oder nicht, im Zeitalter des individuellen Erlösers. Das impliziert die Szene, in der Jack (Leonardo DiCaprio) und Rose (Kate Winslet), verschmolzen in einer doppelten Kreuzigungshaltung, am Bug des Schiffes stehen, das nicht einfach nur unterging, sondern auf direktem Wege in das Reich der modernen Mythen eintauchte. Jack opfert sich, damit Rose leben kann: Erlösung im Kleinstformat. Was einmal möglich ist, läßt sich unendlichfach reproduzieren, denn „das Wesen des Mythus ist“, laut Thomas Mann, „Wiederkehr, Zeitlosigkeit, Immer-Gegenwart“. Ein Heiland für jeden, mindestens, a personal jesus, sozusagen. Ja, selbst Céline Dion nimmt, wenn sie in ihrem Videoclip zum Soundtrack zum Film „My heart will go on“ trällert, mehrfach die Pose des Gekreuzigten ein. Wo alles in die schwammige Zustandsform der Beliebigkeit mäandert, sind Verwechslungen durchaus gewollt. Am Ende des Millenniums ist eh alles nur noch Pop:

Trappattoni hat in rund drei Minuten die deutsche Sprache revolutioniert. Er ist der wortgewaltige Vollstrecker der Infantilitätsgesellschaft. Wenn schon eine Rechtschreibreform, dann nur eine von Trappattoni erarbeitete. Schlechter, als dieser Quatsch, den uns die Kultusministerkonferenz aufs Auge drücken will, kann es nicht mehr werden.

Madonna, eine der langlebigsten Schimären im Musikzirkus, hat sich mal wieder neu erfunden und belästigt erneut mit ihren unreflektierten spirituellen Erfahrungen – weil der Buddhismus im abgebrannten Amiland gerade so hip und so trendy ist. Da muß ich mir in der ersten Single-Auskopplung „Frozen“ anhören, daß ich frozen bin, wenn mein Herz nicht open ist. Madonna, Praktiziererin des Ashtanga-Yoga, baute in den Song „Shanti“ Sanskrit-Gebete aus dem 13. Jahrhunderte ein. Im O-Ton Madonna hört sich das dann so an: „Da bete ich für Demut, Stärke, Glück und Seligkeit durch ein reines Bewußtsein.“ Madonna go home! Das aktuelle Album dieser naiven Trendhinterherhechlerin, „Ray of Light“, ist der endgültige Beweis, warum mir ihre Musik schon immer instinktiv suspekt war.

GAS ist passiert, der „größte anzunehmende Schwachsinn“: Modern Talking reunited. Dieter Bohlen und Thomas Anders haben ihr Überleben, da bin ganz ehrlich, nur den strengen Waffengesetzen in Deutschland zu verdanken. Daß eine „freie“ Gesellschaft Schwachköpfe produziert, ist nicht verwerflich, sondern normal. Erschreckend ist hingegen, daß Heerscharen von Menschen bereit sind, ihr Geld gegen Scheiße einzutauschen. In einer Zeit, in der selbst der kleinste Fliegenschiß zum „Kult“ stilisiert wird, findet sogar der längst beerdigt geglaubte sinnfreie Schlager wieder fruchtbaren Nährboden. Daß Guildo Horn Deutschland beim Schlager-Contest in Birmingham repräsentiert, hat nichts damit zu tun, daß die Deutschen plötzlich Spaß verstehen. Das haben sie nie und werden sie nie. Die Erklärung ist ganz simpel: Die Welt ist ein Irrenhaus und Deutschland die Zentrale.

Alles befindet sich in Auflösung. In einer Gesellschaft, die immer schneller wird, gibt es nur noch eine Konstante: das Fernsehprogramm an christlichen Feiertagen. Eigentlich müßte der Text den Titel „Karfreitag ’98“ tragen, denn das Oster-Programm ist dieses Jahr völlig fürn Arsch. Aber weil sowieso alles egal ist, spielt auch der Titel keine Rolle mehr. Ostern bleibt links liegen und ich konzentriere mich auf den Karfreitag. Doch eigentlich, hier sind wir erneut bei der Beliebigkeit, beginnt alles mit dem Donnerstag davor.

Der Parforceritt nimmt seinen Anfang – wo sonst? – auf Bayern 3. Dort läuft am Donnerstag, den 09. April, KING OF KINGS (USA 1960 / dt. Titel: KÖNIG DER KÖNIGE) von Nicholas Ray. Sein Jesus-Film spaltete die Kritiker in zwei Lager. Nach der Uraufführung befand Variety „kurz gesagt: ein toller Streifen“, wohingegen der katholische filmdienst die Wahrhaftigkeit des Gezeigten monierte: „Da er viel zu viel berichten will, eilt der Film in Riesenschritten durch die Heilsgeschichte, von der Eroberung Jerusalems bis zur Erscheinung des Auferstandenen in Galiläa. Früh schon setzen die Erfindungen ein, durch die plausible Zusammenhänge geschaffen oder Charaktere entwickelt werden sollen. Gravierend wird das bei der Umdeutung zweier Charaktere: Barabbas und Judas. Barabbas ist hier Berufsrebell, militanter Nationalistenführer, dem der Messias als jüdischer König geeignet erscheint. Schon als Pilatus nach Jerusalem zieht, überfällt er in der Wüste die Legionen; der Einzug Christi in die Stadt wird von ihm zu einem Massensturm auf die römische Festung genutzt. Zwei mörderische Schlachten (...) die nie stattfanden. (...) Judas hingegen wird zum Verräter aus nicht unedlem Motiv: Mit der Aufstandsbewegung sympathisierend, will er Jesus durch Todesgefahr zwingen, die Engelsmächte zum irdischen Beistand (...) herabzurufen.“ Time blies ins selbe Horn. Für das Magazin war KING OF KINGS „die unbestritten rührseligste, unechteste, gefühlsduseligste und auf monströse Weise ungeschlachteste aller Bibelgeschichten, die Hollywood im letzten Jahrzehnt verfilmt hat“. Nicholas Ray, der fünf Jahre zuvor mit REBEL WITHOUT A CAUSE (... DENN SIE WISSEN NICHT, WAS SIE TUN) den besten James-Dean-Film inszenierte, verschrieb sich mit KING OF KINGS letztendlich einem kommerziellen Kompromiß, dem er lange erfolgreich widerstanden hatte. Jeffrey Hunter, der Jesus-Darsteller, spielte fünf Jahre später den ersten Captain der „Enterprise“. Aber nur in der Pilotfolge THE CAGE. Danach riß William Shatner das Ruder an sich. Leider wird wieder keine Zweikanal-Fassung ausgestrahlt. So muß man erneut auf Orson Welles Stimme verzichten, der im Original den Erzähler gibt.

Das ZDF startet Karfreitag mit THE ROBE (USA 1953 / dt. Titel: DAS GEWAND) von Henry Koster. Der Film, der auf einem Roman von Lloyd C. Douglas basiert, erzählt die Geschichte des römischen Tribuns Macellus Gallius (Richard Burton), der nach der Kreuzigung um die Habe Jesu würfelt. Er gewinnt das Gewand, aber als er es berühren will, durchzuckt ihn ein gewaltiger Schock und der Himmel wird finster. Marcellus verfällt in Depressionen und droht dem Wahnsinn zu verfallen. Von Kaiser Tiberius (Ernest Thesiger) nach Palästina geschickt – weil Tiberius meint, daß nur ein Irrsinniger den Irrsinn der neuen Religion bekämpfen könne – läuft Marcellus zu den Christen über. Caligula (Jay Robinson) versucht zwar noch, ihn an die Kandare zu nehmen, aber Marcellus geht lieber mit seiner Geliebten, Diana (Jean Simmons), in den Märtyrertod.

THE ROBE ist vor allem aus filmgeschichtlicher Hinsicht interessant. Denn Henry Kosters Film war der erste, der im Breitwandverfahren CinemaScope gedreht wurde. Beim CinemaScope-Verfahren werden Kamera und Projektor mit anamorphotischen Vorsatzlinsen bestückt. Dadurch wird ein breites Bild bei der Aufnahme in das Normalformat des Films komprimiert und bei der Projektion entsprechend wieder entzerrt. Bei Ausnutzung des gesamten Filmbildes erreicht man ein Seitenverhältnis von 2,55:1. Heute hat man das auf 2,35:1 reduziert, um Platz für eine optische Tonspur zu schaffen. Die Entwicklung von CinemaScope geht nicht auf künstlerische Umstände zurück, sondern hatte finanzielle Gründe. Ein stark verkürzter Abriß: Als 1947 der Aufschwung des Fernsehens einsetzte, taumelte die US-Filmwirtschaft in die schwerste Krise ihrer Geschichte. Tausende Filmtheater mußten schließen. So suchten die Studios Attraktionen, um die Zuschauer in die Kinos zurückzulocken. Der „dreidimensionale“ Film konnte sich nicht durchsetzen, aber diverse Breitwandverfahren – CinemaScope, VistaVision, Cinerama, Todd-AO usw. – machten den Kinofilm so interessant, daß die Besucherzahlen wieder anstiegen. THE ROBE kostete die für damalige Verhältnisse astronomische Summe von 4,5 Millionen Dollar – und brach die Kassenrekorde aller früheren Filme. Und das in einem Jahr, in dem die Zuschauerzahlen die niedrigsten seit der Wirtschaftskrise waren. Filmecho schwärmte: „Die biblische Landschaft erstreckt sich in selten gesehener, panoramischer Schönheit dahin, die Erde zittert unter dem breiten Schritt der Legionen, die Pracht des römischen Kaiserhofes wechselt mit der ergriffenen Menge am Weg des Erlösers, der schwere Gang unter dem Kreuz wächst riesig in das Gewissen hinein, der Himmel wölbt sich unermeßlich, die überirdischen Stimmen dringen geheimnisvoll von allen Seiten ins Ohr, und dem Auge erschließen sich ganz neue Perspektiven.“ Das gilt natürlich nur für die große Leinwand, im Pantoffelkino ist das Erlebnis meist enttäuschend – erst recht, wenn sich der Sender entschließt, eine Vollbild-Abtastung auszustrahlen. Aber im öffentlich-rechtlichen Fernsehen geht man doch noch etwas pfleglicher mit Filmen um als bei den Privatfunkern, wo die Ausstrahlung eines Scope-Films mit dem richtigen Seitenverhältnis schon einer Sensation gleicht.

Für mächtig Spaß sorgt Kabel 1 um 20.15 Uhr mit dem Highlight THE TEN COMMANDMENTS (USA 1956 / dt. Titel: DIE ZEHN GEBOTE) von Cecil B. DeMille. Das ist ein Remake seines gleichnamigen Stummfilms aus dem Jahre 1923, und angeblich auf Wunsch der Fans in aller Welt gedreht. Urkomisch ist der Film auf jeden Fall in einer Szene. Da kraucht Moses (Charlton Heston), das dürfte bekannt sein, auf den Berg Sinai. Bei Moses Empfängnis der zehn Gebote konnte sich auch Gunter Groll von der Süddeutschen Zeitung den Spott nicht verkneifen: „Sensationeller noch als die größten Wasserspiele der Welt ist die Verkündigung der Gebote auf dem bengalisch beleuchteten Berg Sinai. Da zischen nämlich, während ein dumpfer Geister-Baß sich vergeblich abmüht, als Stimme Gottes zu wirken, lauter sonderbare kleine Raketen um den erschrockenen Moses, bohren sich knallend in die Felsenwand und ritzen dort die Gebote ein; dann schneidet eine frei schwebende Stichflamme, wiederum unter gewaltiger Lärmentwicklung, zwei Tafeln aus dem Felsen – und das wären sie dann, die zehn Gebote. Maßarbeit... Fehlt nur, wie meist, der Geist.“ Am Fuße des Berges wird derweil das Goldene Kalb gegossen und es tobt das pralle Leben, so, wie es sein sollte. Wein, Weib und Gesang. Kulinarische Genüsse im Überfluß und sinnliche Freuden. Dann kommt der alte Griesgram mit seinen lächerlichen Steintafeln den Berg wieder runter und schon ist Schluß mit lustig. Eine Szene, die symptomatisch für die Leib- und Sinnenfeindlichkeit des Christentums steht. Das ist eigentlich nicht genug Anreiz für einen knapp vierstündigen Sitzmarathon. Aber der Film hat noch einen weiteren Höhepunkt. THE TEN COMMANDMENTS, Cecil B. DeMilles letzter Film, bekam 1957 den Oscar für die besten Spezialeffekte. Und wer erinnert sich nicht an die berühmte Sequenz, in der Moses das Rote Meer teilt. Nur, mal ganz ehrlich, diese Szene sieht selbst auf dem kleinsten Fernseher so grottenschlecht aus, daß man den Academy-Mitgliedern, die die Oscars vergaben, Blindheit unterstellen muß. Mehr von Cecil B. DeMille gibt es, ebenfalls auf Kabel 1, um 15.45 Uhr. Da läuft SAMSON AND DELILAH (USA 1950 / dt. Titel: SAMSON UND DELILAH), und gleich im Anschluß LAND OF THE PHARAOHS (USA 1955 / dt. Titel: LAND DER PHARAONEN) von Howard Hawks. In dieser epischen Erzählung – Mitarbeit am Drehbuch: William Faulkner – geht es um Ehebruch, Rache und Eifersucht rund um den Bau der Cheopspyramide. Joan Collins exerziert hier also nichts anderes durch, als 5000 Jahre später in DYNASTY (DENVER-CLAN).

Mein persönlicher Favorit ist am Karfreitag jedoch JACOB (Italien 1975 / dt. Titel: DIE ARCHE NOAH) von Marcello Baldi. Der weiter oben schon erwähnte filmdienst verstand da überhaupt kein Spaß: „Das Mißverhältnis zwischen Titel und Inhalt offenbart eine Konzeptlosigkeit, die in vielen Szenen sichtbar wird.“ Mit diesem Verriß gibt es für mich also vier gute Gründe, diesen Film anzuschauen. Erstens kenne ich ihn noch nicht, zweitens ist er aus Italien, drittens aus den Siebzigern, viertens siehe oben. Nicht die Stirn runzeln, ich hasse die siebziger Jahre, wirklich. Aber italienische Filme, die in diesem Jahrzehnt aus der Zwischenzeit gedreht wurden, gehören mit zum Besten, was das Kino zu bieten hat (und das nicht nur aus trashologischer Sicht).

Fast hätte ich es übersehen: 3 sat zeigt unter dem Titel „Kreuzigung unter dem Vulkan“ am Karfreitag um 13.30 Uhr eine Dokumentation über die philippinische Passion. Ob die um die Uhrzeit allerdings schon die Nerven haben, um zu zeigen, was die Philippinos unter Spaß verstehen, darf noch bezweifelt werden. Normalerweise geißeln die sich mit Peitschen die Rücken in Fetzen, und die größten Spaßvögel lassen sich für einige Minuten tatsächlich ans Kreuz schlagen, mit echten Nägeln, versteht sich. In München soll dieses Jahr, zum ersten Mal seit 200 Jahren (stimmt das? Wo ist bloß diese verdammte Meldung geblieben?), auch so ein christlicher Karnevalsumzug stattfinden, halt bloß ohne Bonbonwerfen, dafür mit mürrischen Gesichtern und viel Gedöns. Phoenix überträgt leider nicht live. An Schauwerten dürfte diese bajuwarische Narrenprozession den feel-the-pain-Philippinos auch nichts entgegenzusetzen haben. Phoenix, der Ereigniskanal ohne Publikum, hat dafür ein Comedy-Highlight des Fernsehjahres 1998 im Programm. Karfreitag um 11.00 Uhr läuft ein Vortrag von Betonkopf Joseph Ratzinger. Eine Stunde lang! Ohne Unterbrechung! Unbedingt einschalten!

Eigentlich wollte ich ja noch auf die international ko-produzierte Mammutserie DIE BIBEL eingehen. Mehrere Teile davon laufen auch über Ostern. Keine Panik: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben; spätestens Weihnachten sehen wir uns wieder vor dem „quadratischen Horizont“ (Paul Virilio). Aber jetzt habe ich keine Lust mehr. Heute, Dienstag, starten die neuen Folgen von PRETENDER (mit der geilen Andrea „ich töte mit meinen Blicken“ Parker) und PROFILER (brillante Serie!). Außerdem laufen: James Whales THE BRIDE OF FRANKENSTEIN, Terence Fishers THE BRIDES OF DRACULA und nachts auch noch ein Hal-Hartley-Film. An manchen Tagen kann das Leben richtig schön sein.

Ich komme nicht drumrum: Meine Reverenz an den running gag des Jahres ’98: „Ich habe fertig!“


© Christian Barduhn, im April 1998    Index    Der Humanist