Manhunter

Gedanken und Notizen für eine Annäherung
von
Christian Barduhn

 

The killer in me is the killer in you
(The Smashing Pumpkins: „Disarm“)

 

Will:

He believes he will become one who is wanted and desired and accepted. It’ll all come true. This started from an abused kid, a battered infant. There’s something terrible about...
Jack:
What? Are you sympathizing with this guy, now?
Will:
Absolutely! My heart bleeds for him as a child. Someone took a kid and manufactured a monster. At the same time as an adult, he’s irredeemable. He butchers whole families to pursuit trivial fantasies. As an adult, someone should blow this sick fuck out of his socks!

 

I. DER FILM

Denn Gnade hat ein menschlich Herz,
ein Menschengesicht Mitleid,
Liebe hat göttliche Menschengestalt
und Friede ein Menschenkleid.
(William Blake: Lieder der Unschuld, 1789)

II. DIE EXEGESE

Kann ich sehen fremde Pein
und nicht selbst voll Kummer sein?
Kann ich sehen fremden Schmerz,
daß nicht Mitleid fühlt mein Herz?

(William Blake: Lieder der Unschuld, 1789)

(Um der Lesbarkeit willen sind die Abschnitte I. und II. in einem Block zusammengefaßt und farblich getrennt. Die Schreibweise von Hannibal Lecktor, Francis Dollarhyde und Freddie Lounds wurde von den Credits des Films übernommen.)

Die Eingangssequenz ist elektronisch verfremdet. Die subjektive Kamera schwebt eine Treppe hinauf. Der Schein einer Taschenlampe irrlichtert über Spielzeug, streift ein Kinderzimmer und einen Spiegel, zuckt hastig zur Seite. Ein Schlafzimmer: Mann und Frau; die Frau erwacht. Schwärze...

Die Exposition nimmt die Kernaussage des Films vorweg und figuriert zwei Handlungsebenen: Zum einen die Bedrohung der Familie, Keimzelle der Gesellschaft, die durch Kinderreichtum den Fortbestand des Staates garantiert. Die Vernichtung dieser Keimzelle läßt den Staat, der eigentlich für den Schutz seiner Bürger garantieren sollte, ohnmächtig und impotent erscheinen. So ist es nur konsequent, daß auch Grahams Familie im Laufe des Films dieser Gefahr ausgesetzt wird und Graham, der zu diesem Zeitpunkt durch seine Hilfe für das FBI von seinen Angehörigen getrennt ist, dem Gefühl völliger Hilflosigkeit ausgeliefert wird – die Korrelation zwischen Mikro- und Makrokosmos.

Zum anderen das Spiel mit der Identifikationsfigur. Das Stilmittel des point-of-view versetzt den Rezipienten gleich zu Beginn des Films in den Kopf des Killers und nimmt damit Grahams Weg zur Erkenntnis vorweg. Graham funktioniert nur physisch als Identifikationsfigur. Seine Entschlüsselungsversuche, die mörderische Motivation des Gejagten zu verstehen, stellen immer wieder eine geistige Analogie zum Killer her und – dies ist die gewagte Aussage des Films – erzwingen die psychische Identifikation mit den Denkstrukturen des Killers. An einer Stelle konzentriert sich der Film über einen langen Zeitraum nur auf den Killer. Wenn dann Will Graham das erste Mal wieder ins Bild kommt, ist er uns bereits so fremd geworden, daß sich ihm die Kamera erst wieder ganz langsam nähern muß.

Der Vorspann beginnt in Schwarz. Der Schriftzug „MANHUNTER“ luminesziert in Grün und verschwindet. Die Leinwand beginnt, sich blau zu färben, wird immer heller und geht ins Azur des Himmels über. Die Kamera fährt senkrecht nach unten, fängt Will Graham und Jack Crawford ein. Das Gefühl des freien Falls aus dem Bewußtsein eines Serienkillers endet auf dem Boden der Realität.

Will Graham ist ein Eidetiker: jemand, der ein Ereignis aus der Vergangenheit als anschauliches, wie wirklich vorhandenes Bild vor seinem geistigen Auge repetieren kann. Diese Fähigkeit ermöglicht es ihm, sich in Gedankengänge – speziell von Serienkillern – hineinzuversetzen. Doch Grahams persönliche Verluste bei der Aufspürung und Verhaftung Hannibal Lecktors waren zu schmerzlich – er quittierte den FBI-Dienst. Zurückgezogen lebt er mit seiner Frau Molly (Kim Greist) und seinem Sohn Kevin (David Seaman) an Floridas Küste und repariert Bootsmotoren.

Sein ehemaliger Vorgesetzter, Jack Crawford (Dennis Farina), sucht ihn auf, weil Graham seine letzte Hoffnung ist: Ein neuer Serienkiller, der ganze Familien tötet, die keine Gemeinsamkeiten aufzuweisen scheinen, stellt das FBI vor ein Rätsel.. Die einzigen Zusammenhänge: die Morde geschehen immer bei Vollmond, und der Täter zerschlägt alle Spiegel in den Häusern. Als Graham die Fotos der ermordeten Familien sieht, bricht sein Widerstand zusammen. Er sagt seine Hilfe zu.

Als Jack Crawford Will Graham reaktivieren will, sitzen sie am Strand, Rücken an Rücken auf einem angeschwemmten Ast. Es wird sofort deutlich, daß hier keine Freunde miteinander reden. Ein Gefühl tiefer Verletztheit liegt über dieser Szene. Die Kommunikation verbleibt kollegial. Der Film wird zum Ende hin an diesen narrativen Punkt zurückkehren. Crawford besitzt nur ein Ziel: den Killer zur Strecke bringen. Dafür benutzt er bewußt Menschen. In THE SILENCE OF THE LAMBS wird er das gleiche Verhaltensmuster an den Tag legen und die unerfahrene Clarice Starling auf Lecktor ansetzen. Crawford kennt die psychologischen Tricks, mit denen er Graham packen kann: Er zeigt ihm die Fotos der Opfer. In diesem Moment erblickt Graham seine Familie. Man sieht, wie er mit der Projektion auf die eigene, aber auch auf alle anderen potentiellen Opfer-Familien beginnt.

Drei Farben dominieren den Film: Blau, Weiß und Rot. Blau, darauf weist Georg Seeßlen in seinem Buch David Lynch und seine Filme hin, das ist „die Farbe der furchtbaren Erinnerung“; Weiß ist hier mit Logistik und Rationalität gleichzusetzen; Rot fungiert als Begleitfarbe auf dem Weg zur Macht, die Farbe der Leidenschaft, der Begierde, der Obsession, die Farbe der emotional bedingten Veränderung. Unnötig, darauf hinzuweisen, daß dies die drei Farben des Star-Spangled Banner sind. Francis Dollarhyde, der Killer, träumt einen eigenen, seinen ganz persönlichen american dream. Diese Dreierkonstellation an Farben läßt sich problemlos auf die wichtigsten Charaktere übertragen: Rot ist uneingeschränkt Francis Dollarhyde zuzuordnen; Weiß teilen sich Crawford und Lecktor; mit der Farbe Blau müssen Will Graham und seine Frau leben. Die furchtbaren Erinnerungen an seine vorangegangenen Fälle, die ihn letztendlich dazu zwangen, seinen Dienst zu quittieren, sind zwischen Will und Molly ständig präsent. Ein tiefes Blau kennzeichnet die Szenerien der nächtlichen, privaten Gespräche. Die Sonne kann die Erinnerungen am Tage nur zeitweilig verdrängen, in der Nacht gibt es kein Entkommen. Einzig die Liebe verspricht Linderung.

Bis zum nächsten Vollmond sind es noch über drei Wochen. Graham besichtigt den Tatort der letzten Opfer, das Haus der Leeds in Atlanta.

Wenn Graham die Häuser der Opfer aufsucht, sind die Bilder durchtränkt mit Blau. Erst mit dem Einschalten des Lichts verraten die Räume ihre wahre Farbe: Weiß. Das verleiht Lecktors Psyche eine alptraumhafte Omnipräsenz. Beim Haus der Leeds beschreibt die Kamera exakt den Weg der Exposition. Hier wird die Ambivalenz des Wortes „Manhunter“ deutlich. Das britische Video-Cover textete überaus reißerisch: „Will Graham has the mind of a psychopath ... thank God he’s on the right side of the law.“

Später, im Hotel, sichtet er die privaten Amateurfilme der Leeds und Jacobis, die ihm die Polizei auf Video kopiert hat. Graham beginnt langsam, sich an die Denkweise des Killers heranzutasten. Fingerabdrücke wurden nicht gefunden, aber Graham spürt, daß der Mörder Mrs. Leeds mit bloßen Händen berührt haben muß. Er beantragt eine zweite Überprüfung, diesmal an Augen sowie Finger- und Fußnägeln. Am nächsten Morgen nimmt Graham an einer Einsatzbesprechung teil. Der Leiter zeigt ein Gebiß-Modell des Täters herum, angefertigt vom Smithsonian Institute anhand von Bißspuren am Körper von Mrs. Leeds. Aufgrund der Ungewöhnlichkeit des Modells wird der Killer intern als „The Tooth Fairy“ bezeichnet.

„The Tooth Fairy“ wird in der deutschen Übersetzung des Buches Red Dragon von Thomas Harris korrekt mit „Zahnschwuchtel“ wiedergegeben. Die deutsche Synchronfassung des Films dämpft den Ausdruck auf „Zahnfee“, so daß die homosexuellen Konnotationen des Wortes Schwuchtel wegfallen.

Die Beamten werden angewiesen, den Spitznamen nicht an die Presse weiterzugeben – erfolglos, wie sich herausstellen wird. Die erneute Untersuchung gibt Graham Recht: Der Täter hat tatsächlich Abdrücke auf Auge und Zehennägel hinterlassen. Crawford und Graham verlassen das Polizeigebäude und geraten in eine kurze Auseinandersetzung mit Freddie Lounds, einem schmierigen Reporter des National Tattler. Zwischen Graham und Lounds besteht seit dem Lecktor-Fall eine alte Feindschaft. Der Schnüffler schlich sich damals in Grahams Krankenzimmer, zog die Decke beiseite und fotografierte dessen Verletzungen.

„He’s news!“ sagt Freddie Lounds über Graham. Der Ausdruck „Manhunter“ erhält eine dritte, wenn auch untergeordnete Bedeutungsebene: Menschen als jagdbare Nachrichten. Graham packt Lounds an seinem blauen (!) Hemd und schleudert ihn in die Windschutzscheibe eines parkenden Autos. Daß er mit ihm seine eigenen Erinnerungen loswerden will, ist offensichtlich.

„Recover the mind scent“ – damit begründet Graham seinen Besuch bei Dr. Lecktor (Brian Cox) im Chesapeake State Hospital. Außerdem hofft er, von Lecktors analytischem Verstand profitieren zu können. Dieser weist ihn auf die großen Gärten hinter den Häusern hin. Als Lecktor anfängt, persönlich zu werden, bricht Graham den Besuch ab.

Das Chesapeake State Hospital ist ganz in Weiß gehalten, bis hin zur Zelle und Kleidung Lecktors. Will Graham bewegt sich schutzlos auf feindlichem Terrain, befindet sich in Lecktor-County. Dr. Lecktor, gleichsam ein blade runner im wörtlichen Sinne, der elegant auf der scharfen Klinge zwischen Genie und Wahnsinn balanciert. Er denkt rational, wenn auch auf einer höheren Rezeptionsebene. Wie in THE SILENCE OF THE LAMBS fordert er für sein Täterprofil persönliche Gegenleistungen. Lecktor durchschaut Graham: „You came here to look at me, to get the old scent back...“

Graham kann sich mental nicht länger vor ihm schützen und will die Zelle verlassen. Lecktor ruft ihm hinterher: „The reason you caught me, Will, is because we’re just alike. Do you want the scent? Smell yourself!“ Graham flieht einen serpentinenähnlichen Gang hinunter, flieht aus den Gehirnwindungen Lecktors. Das allgegenwärtige Weiß wirkt erdrückend. Die Kamera bleibt statisch, gnadenlos, verweigert jegliche Anteilnahme.

Aufgrund der rigorosen Farbästhetik wird MANHUNTER von vielen Kritikern als kalt bezeichnet. Aber gerade diese Distanz des Rezipienten zur physischen Identifikationsfigur errichtet die geeignete Brücke zum Gedankenuniversum des Killers. Diese Distanz läßt aber auch die menschliche Isolation, an der alle Menschen mit besonderen Fähigkeiten leiden, einfühlsam miterleben. Ray Milland (THE MAN WITH THE X-RAY EYES) oder Christopher Walken (THE DEAD ZONE) mußten die gleichen Erfahrungen machen.

Nachdem Graham die Zelle verlassen hat, läßt sich der Gefangene sein Telefon ohne Tastatur geben. Durch Manipulation am Apparat und Vermittlungsumwege ermittelt er Grahams Privatadresse in Florida.

Graham fliegt nach Birmingham, um das Haus der Jacobis zu begutachten, die ersten Opfer des Killers. Er berücksichtigt Lecktors Hinweis und findet einen Baum mit einem eingeschnitzten Zeichen – und weiß im selben Moment, daß der Täter dort saß und das Haus beobachtete.

Das eingeschnitzte chinesische Zeichen bedeutet Glück im Spiel. Auf einem Mah-Jongg-Stein bezeichnet es den Roten Drachen. Damit bekommt der Rezipient den ersten Hinweis auf William Blakes Gemälde The Great Red Dragon and the Woman clothed with the Rays of the Sun (dt.: Der Große, Rote Drache und die mit der Sonne gekleidete Frau).

William Blake: The Great Red Dragon and the Woman clothed with the Rays of the Sun

 

Bei einem Telefongespräch mit Crawford erfährt Graham, daß ein Foto von ihm auf der Titelseite des National Tattler prangt. Freddie Lounds schoß es, als er das Chesapeake State Hospital verließ. Noch während des Gesprächs erhält Crawford auf einer anderen Leitung einen Anruf von Dr. Frederick Chilton, dem Leiter des Hospitals. Bei einer Routineuntersuchung wurde in Lecktors Zelle eine Nachricht gefunden, offensichtlich vom Killer. Graham fliegt zurück nach Washington.

Die Nachricht – geschrieben auf Toilettenpapier – ist in zwei Hälften gerissen. Der dazwischen fehlende Teil hätte die Kommunikationslinie zwischen Lecktor und dem Killer offengelegt. Doch unter Infrarotlicht zeigen sich an der Abrißkante noch die Buchstabenspitzen des Wortes TATTLER. Damit ist klar: Der Nachrichtenaustausch erfolgt über den Anzeigenteil der Zeitung. Lecktor wird während der häufigen Routineuntersuchungen in einer Ersatzzelle verwahrt. Damit er nicht mißtrauisch wird, muß die Nachricht vor Ablauf der für diese Prozedur üblichen Zeitspanne wieder in seiner Zelle plaziert werden. Das macht es für die Beamten unmöglich, den Code zu knacken und die Anzeige durch einen eigenen Text zu ersetzen.

Lecktor benutzt für seinen Code nicht die Bibel – das zeigt sich an den nichtexistenten Bibelstellen: Galater 15,2; Jona 6,8 ... Aber es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß er für die Codierung (= Verfälschung des Alphabets) auf das Vokabular eines Falsifikats (= Bibel) zurückgreift.

Graham bietet sich als Lockvogel an, um dem Killer eine Falle zu stellen. Dazu liefert er Freddie Lounds falsche Informationen: Der Täter sei wahrscheinlich homosexuell und bei Frauen impotent. Er läßt sich mit Lounds vor einem großen Fenster fotografieren, damit der Killer den Ort problemlos finden kann.

Lounds drängelt sich mit auf das Foto. Graham wehrt sich nicht dagegen. Lecktor erkennt den unterschwelligen Revanchismus und wird Graham dafür später gratulieren: „I want to congratulate you for the job you did on Mr. Lounds. I admire that enormously. Oh, what a cunning boy you are, Will.“

Bei der anschließenden Unterhaltung ist die Leinwand farblich-vertikal geteilt. Crawford, zuständig für die polizeiliche Logistik, steht vor einer weißen Holztür; Graham, alleine mit seinen Erinnerungen, befindet sich vor einer blauen Wand. Das Farbverhältnis wird erneut definiert.

Anstatt Graham zu attackieren, kidnapped der Killer jedoch Lounds. Als dieser erwacht, ist er an einen Rollstuhl festgeklebt. Sein Entführer zwingt ihn, einen Text auf Band zu sprechen. Anschließend beißt er ihm die Lippen ab, transportiert ihn zurück zum National Tattler, steckt ihn in Brand und stößt ihn – samt Rollstuhl – brennend in die Tiefgarage.

Dollarhydes Haus wird von zwei Elementen beherrscht: eine Reproduktion von Blakes Gemälde und ein wandgroßes Poster. Das Motiv des Posters zeigt die zerklüftete Oberfläche des (roten) Planeten Mars. Zusätzlich zur äußeren Landschaft spiegelt das Poster auch eine innere wider: die zernarbte Seele Dollarhydes. Während des Showdowns wird er es durchschreiten. Eine schlüssige Symbolik. Mit der Zerstörung der nach außen projizierten Seelenlandschaft vollzieht sich ein letzter entscheidender Schritt. Dollarhyde entfernt alle überflüssig gewordenen spezifisch menschlichen Eigenschaften.

Dollarhyde zeigt Lounds mehrere Dias der Jacobis und der Leeds, vor und nach den Morden. Die ersten vier begleitet er mit dem Zusatz: „Do you see?“. Interessant ist, daß sich auch William Blake mit der Problematik des Sehens beschäftigte. Der Kernsatz lautet: „Ein Narr sieht nicht denselben Baum, den ein Weiser sieht.“ Lounds erkennt nur ermordete Menschen. Dollarhyde ist auf dem Weg einer Verwandlung: Er begreift seine Taten als das Werk eines göttlichen Wesens. Aufmerksamkeit sollte der Rezipient Dollarhydes blau-weißem Hemd schenken: er trägt die Farben seiner Gegner. (Für Bildmaterial siehe Anmerkung 1 am Ende von Abschnitt III.)

Aus der abschließenden Einstellung – eine Außenansicht von Dollarhydes Haus – wurden Lounds’ Schmerzensschreie von der Tonspur der deutschen Synchronfassung getilgt.

In der Zwischenzeit patrouilliert Graham auf dem weiträumigen Parkplatz vor dem Gebäude, in dem er sich mit Lounds fotografieren ließ. Im Laufschritt nähert sich ihm ein Mann. Graham wartet bis zum letzten Moment, greift den vermeintlichen Killer an und überwältigt ihn. Erst jetzt bemerkt er, daß es sich um einen harmlosen Jogger handelt.

Endlich ist der Code geknackt. Lecktors Nachricht an den Killer: „Graham Home, 3860 DeSoto-Highway, Captiva, Florida. Save yourself, kill them all.“ Graham fliegt umgehend zu seiner Familie und bringt sie in Sicherheit.

Francis Dollaryhde (Tom Noonan) arbeitet bei Gateway Lab, einem Labor zur Entwicklung von Filmen. Durch einen Zufall bekommt er die Gelegenheit, die blinde Arbeitskollegin Reba McLane (Joan Allen) nach Hause zu fahren. Er macht einen Umweg über den Zoo und läßt sie einen betäubten Tiger befühlen.

Währenddessen vertieft sich Graham immer weiter in die Gedankenwelt des Killers: „You rearrange the dead families into an audience, to see what you do.“

Dollarhyde und Reba kommen sich langsam näher. Er nimmt sie mit in seine Wohnung. Während beide auf der Couch sitzen, stimuliert Dollarhyde sich mit einem Film, der seine nächsten Opfer zeigt. Reba ergreift die Initiative und geht mit ihm ins Bett.

Als Dollarhyde am nächsten Morgen erwacht, ist Reba verschwunden. Er findet sie außerhalb seines Hauses, auf einem Bootssteg stehend, golden eingehüllt in die Strahlen der aufgehenden Sonne. Dollarhyde ist überwältigt von dem Anblick: „... you should stay outside. It’s ’cause you look so good in the sun.“ Für ihn gleicht Reba in diesem Augenblick der „... mit der Sonne gekleideten Frau“.

Graham telefoniert mit Lecktor. Dieser gibt ihm erneut einen Tip: „It feels good, Will, because God has power. And if one does what God does, enough times, one will become as god is.“

Mit Lecktors Hinweis begibt sich Graham nochmals in das Haus der Leeds. Dank seiner eidetischen Fähigkeiten sieht er Mrs. Leeds im Bett liegen. Er denkt wie der Killer: „I see you there and I see me desired by you, accepted and loved in the silver mirrors of your eyes.“ Damit erklärt sich das Rätsel der Spiegel. Dollaryhde benutzt sie, um seine Eindrücke zu verstärken. Nach der Ermordung der Familie drückt Dollarhyde der Frau Spiegelsplitter in die Augenhöhlen und Vagina, ihren Mann und die Kinder gruppiert er wie ein Publikum um die Leiche. Die im Frauenkörper versenkten Scherben spiegeln ihn und seine Begierden wider. Er träumt davon, geliebt und begehrt zu werden. Diese Ansprüche können die von ihm heimgesuchten Familien nicht erfüllen. Eine Erkenntnis, die die Konsequenz des Tötens nach sich zieht: er verwandelt die Opfer in Wesen, die ihn lieben und begehren.

Vollmond. Dollarhyde wartet auf Reba vor ihrem Haus. Seine Freude schlägt in Enttäuschung und Wut um, als er sieht, wie ein anderer Arbeitskollege Reba nach Hause und bis zur Tür begleitet. Dollarhyde erschießt ihn und entführt Reba in sein Domizil.

Die Verwandlung schreitet voran. Auf Rebas Fragen „Who is it? Francis?“ antwortet er: „No, not Francis. Francis is gone. Francis is gone ... forever.“ Mit ihm dringt ein bedrohlich wirkendes Rot in ihre Wohnung ein.

Graham öffnet sein Bewußtsein vollständig und sieht sich die Videos der Jacobis und der Leeds wieder und wieder an: „Your primary sensory intake that makes your dream live, is seeing.“ Schließlich entdeckt er den entscheidenden Zusammenhang: Der Killer kannte die Filme! Sie wurden bei Gateway Lab, St. Louis, Missouri, entwickelt. Noch während des Flugs überprüfen Crawford und Graham die Führerscheine der Gateway-Mitarbeiter. Als er das Foto von Dollarhyde sieht, weiß Graham, daß dieser der Täter ist.

Dollarhyde zerschlägt einen Spiegel und beginnt, Reba mit einem Splitter zu bedrohen. Graham springt durch ein Fenster und erschießt den Killer nach einem kurzen Kampf.

Crawford versucht, Graham aus der Schußlinie zu halten. Doch Dollarhyde sitzt zu tief in Grahams Gehirn. Er muß es selbst zu Ende bringen, ansonsten wird es für ihn keine Erlösung, keinen Seelenfrieden geben. Blau sind die Köpfe der mit flüssigem Teflon gefüllten Kugeln. Mit jedem der sechs Schüsse kompensiert er seine Erinnerungen. Dollarhyde fällt, das Blut breitet sich schwingengleich unter ihm aus. Dieses Arrangement läßt zwei Lesarten zu: die Verwandlung ist vollendet, Dollarhyde ist der Rote Drache. Oder: die geistige Metamorphose wurde verfehlt. Der weibliche Bestandteil des Bildes – und damit die unterdrückte Homosexualität – hat die Überhand gewonnen. Der Destruktionstrieb „ist das Ergebnis eines ungelebten (...) Lebens“ (Erich Fromm: Die Seele des Menschen). Das erklärt auch das brutale Vorgehen gegen Freddie Lounds, der ihn mit Grahams Hilfe der Homosexualität bezichtigte. Gewalt als Ventil für unterdrückte Gefühle.

Die letzte Einstellung zeigt Molly und Will am Strand vor ihrem Haus, auf das Meer hinausblickend. Ihr Sohn tritt hinzu; die Familie ist wieder vereint. Die Sonne verdrängt die Erinnerungen.

Aber irgendetwas ist falsch an diesem Bild. Es „riecht“ zu sehr nach einer vom Produzenten geforderten Happy-End-Postkartenidylle. Ein Trugbild hat Michael Mann daraus gemacht, dem man die Falschheit ansieht. So wie einen Manns stilisierte Bilder immer wieder daran gemahnen, dieser Welt besser nicht zu trauen, wachsam zu bleiben. Mit dem Ende im Director’s Cut (siehe hierzu auch Anmerkung 1 am Ende von Abschnitt III.) weist der Regisseur noch einmal nachdrücklich auf die Ambivalenz des Wortes „Manhunter“ hin: Da steht Will Graham, mit einem breiten Schnitt quer über sein Gesicht, seine ganze innere Zerrissenheit spiegelnd, an der Tür der Shermans, die die nächsten Opfer des Killers hätten werden sollen. Nach einem kurzen Dialog sagt Graham: „I just stopped by to see you. That’s all.“ Dollaryhde wird, wie Lecktor, ein Teil seiner furchtbaren Erinnerungen bleiben.

Zelebrierte Robert Zemeckis in CONTACT die Menschenkörper als individuelle Universen, so materialisieren sich die Männerkörper in MANHUNTER als Schlachtfelder, die mit psychischen und physischen Narben übersät sind. Körper-Zeichen, die die Gleichheit von Jäger und Gejagtem, die sich innerhalb eines begrenzten Gebietes umkreisen, signalisieren. Das Balancieren auf Grenzen, das Entlangschreiten an Grenzen, ist ein immer wiederkehrendes Motiv im Werk von Michael Mann, siehe auch THE THIEF und HEAT. Oder THE LAST OF THE MOHICANS, der auf einer Kriegsgrenze spielt.

„Das Schlachtfeld war“, laut Paul Virilio in seinem Buch Krieg und Kino – Logistik der Wahrnehmung, „von Anfang an ein Wahrnehmungsfeld“. Schlachtfeld-Körper, die sensorisch stimuliert werden müssen. Dollarhydes Wahrnehmung bedingt primär das Sehen. Bei Graham ist es eher ein psychisches Fühlen. Tatsächlich läßt die Architektur der in MANHUNTER gezeigten Gebäude den Rückschluß zu, als befände sich Will Graham im Körperinneren seiner Feinde: Seine Flucht über den serpentinenähnlichen Gang im Chesapeake State Hospital, der Lecktors Gehirnwindungen symbolisiert. Einmal fährt Graham in einem Aufzug an der Außenwand eines Hotels empor. Und drumherum sind Girlanden am Gebäude gespannt, die aussehen wie monströse Aorten. Immer wieder berührt er die Gebäude (die Wand eines Hotelzimmers, das Fenster eines Diners, eines Büros), als wolle er seinen Gegner von innen heraus erfühlen.

Und wenn die Schlacht geschlagen ist, die Grenzen zum Wahnsinn ausgelotet wurden, bleibt ein Gefühl der Identitätsverwirrung zurück. Nachdem Graham Dollarhyde erschossen hat, verläßt er mit Reba das Haus. „Who are you?“ fragt sie ihn. Und seine Antwort „Graham. I’m Will Graham“ klingt, als müsse er sich selbst davon überzeugen.

Wenn man MANHUNTER vollständig erfassen will, dann muß man auch die Texte des kongenialen Soundtracks berücksichtigen. Wenn Reba mit Dollarhyde schläft, hört man auf der Tonspur:

Is there a fire in the sky
is there a moon up there
is anything alive now
this darkness is what I hear
this is a breathless silence
a moment out of time
I see your face in the shadows
ten-tailed suns are in your eyes
(Shriekback: „This Big Hush“)

Je mehr sich Michael Mann in MANHUNTER weigert, die Schaulust zu befriedigen (der erste Schock erfolgt, als Crawford Graham die Bilder der ermordeten Familien zeigt: wir sehen keine blutüberströmten Leichen, sondern Familienfotos der Leeds und Jacobis), desto tiefer bohrt sich der Film in die Phantasie des Rezipienten. Michael Manns MANHUNTER aus dem Jahre 1986 ist der frühe Prototyp des modernen Serienkillerfilms und aufregender und intelligenter in der Inszenierung als Jonathan Demmes oscargekrönter THE SILENCE OF THE LAMBS.

 

 

III. Das Buch

Des Kindes Weinen war umsonst,
umsonst die Eltern weinten sehr;
Man zog es aus bis auf das Hemd
und legte es in Ketten schwer.

(William Blake: Lieder der Erfahrung, 1794)

Damit dieser Abschnitt nicht unter der Ägide der Sinnlosigkeit steht, wird es keine Inhaltsangabe von Thomas Harris’ Roman Roter Drache geben. Vielmehr sollen hier gravierende Unterschiede bzw. Details dargestellt werden, die sich erhellend auf das Verständnis des Films auswirken.

(Die Schreibweise von Francis Dolarhyde, Hannibal Lecter und Freddy Lounds wurde dem Buch entnommen.)

Das Wichtigste: Das Buch erzählt die Kindheit von Francis Dolarhyde. Seine Mutter, Marian Dolarhyde Trevane, entließ ihn am 14. Juni 1938 in Springfield, Missouri, in die Welt. Sein Geburtsfehler waren zweiseitige Fissuren in Oberlippe und Gaumen. Vier Tage später – der Oberarzt wollte erst sichergehen, daß er überlebte – kam es zur ersten Begegnung zwischen Mutter und Sohn. Marian bekam einen Schreikrampf. Einen Tag später verließ sie das Krankenhaus – allein.

Ein Chirurg versuchte, die Hasenscharte zu schließen; der Erfolg war jedoch gering. Aber ein Zahnarzt fertigte einen Obturator an, der den Gaumen verschloß. Francis kam eineinhalb Jahre in die Kinderkrippe von Springfield und danach ins Morgan-Lee-Waisenhaus

Als Francis fünf Jahre alt war, holte ihn seine Großmutter zu sich. Daß sie überhaupt einen Enkel hatte, erfuhr sie erst von Marians Ex-Ehemann. Aus Rache sorgte sie für eine erneute Begegnung zwischen Mutter und Sohn: Marian saß an einem Schminktisch, mit einem von Glühbirnen umrandeten Spiegel. Francis betrat das Schlafzimmer, konnte aber aufgrund seines Geburtsfehlers nur „Muhner“ anstatt Mutter sagen. Beide sahen sich an, aber nur über den Umweg des Spiegels! Ohne sich auch nur einmal umzudrehen, löschte Marian das Licht.

Die Großmutter nahm Francis mit in ihr Altersheim, das sie leitete. Es sollte eine Zeit der traumatischen Ereignisse werden. Wegen Bettnässerei drohte sie ihm, den Penis mit einer Schere abzuschneiden. Die Köchin des Altersheims, Queen Mother Bailey, erwischte Francis und eine Nachbarstochter, wie sie sich gegenseitig ihre Geschlechtsteile zeigten. Daraufhin versuchte die Großmutter, die beiden in flagranti zu erwischen. Der Versuch schlug fehl, sie drohte ihm dennoch wieder mit der Schere. Francis verdächtigte die Köchin, ihn verraten zu haben. Zu diesem Zeitpunkt begann der Junge, allen zu mißtrauen und Tiere zu töten. Die Großmutter wurde im Laufe der Zeit immer verwirrter und wurde in eine Nervenheilanstalt eingeliefert.

Francis wurde von seiner Mutter aufgenommen. Seine Stiefgeschwister ignorierten in anfangs, aber dann kam es zu einer folgenschweren Begegnung. Sein Stiefbruder Ned schlug ihm nach einem Streit das Gesicht an einem Spiegel (!) blutig.

Als er im Alter von neun Jahren die Katze seiner Stiefschwester erhängte, wurde er wieder in ein Heim eingeliefert. Mit siebzehn versuchte Francis, in das Haus einer Frau einzudringen. Man stellte ihn vor die Wahl: Gericht oder Militär – er entschied sich für letzteres.

Während seiner Zeit bei der Army absolvierte Francis eine Spezialausbildung für Entwicklungstechnik. Außerdem bemühten sich Chirurgen nochmals um seinen Geburtsfehler. 1961 entließ man die Großmutter aus der Anstalt. Francis und sie lebten bis zu ihrem Tod 1970 zusammen. Neun Jahre später sah Francis zum ersten mal Blakes Aquarell Der Große, Rote Drache und die mit der Sonne gekleidete Frau. Er spürte sofort die sexuelle Energie, die von dem Gemälde ausging. Noch im Frühling 1979 flog Francis nach Hongkong und ließ sich dort Blakes Drachen auf den Körper tätowieren (siehe Anm. 1 am Ende von Abschnitt III.).

Ein weiterer wichtiger Unterschied zum Film sind die Gespräche zwischen Francis Dolarhyde und dem Drachen. Der Auslöser für sie ist die blinde Reba McLane. Sie nähert sich ihm ohne visuelle Vorurteile. Er kann sich und seine Begierden ungehindert in ihren Augen spiegeln, ungetrübt durch emotionale Reaktionen ihrerseits. Dolarhyde entwickelt Gefühle und begehrt sie als lebendigen Menschen. In ihrer Nähe ist er ruhig. Sie begehrt nur seinen Körper. Sex ist für Reba die einzige Verbindung. Diese Einsicht stärkt Dolarhydes abgespaltene (= verwandelte) Persönlichkeit, und er droht mit der Tötung Rebas. Um seine Entscheidungsfreiheit zu behalten, vollzieht Dolarhyde einen kühnen Schritt: Er geht ins Brooklyn Museum, New York, und verschlingt (im wörtlichen Sinne!) Blakes Gemälde. Die Annahme, daß er dadurch die Gewalt über den Drachen erlangt, erweist sich jedoch als Trugschluß.

Der Schluß des Buches wurde für den Film komplett modifiziert. Die Buch-Version: Dolarhyde entführt Reba in sein Haus und täuscht einen Selbstmord durch Erschießen vor. Der Leichnam wird später als Arnold Lang identifiziert – ein Tankwart, mit dem Dolarhyde aneinandergeriet. Aber Dolaryhde besitzt noch die Adresse der Familie Graham ... er verletzt Will schwer, Molly erschießt ihn.

Anm. 1: Nachdem Dolarhyde Freddy Lounds in seine Gewalt gebracht hat, entblößt er seinen tätowierten Oberkörper. Für eine kurze Zeit existierte eine Rohschnittfassung des Films, in der die Szene zu sehen war. Dieser Tattoo-shot wurde vor dem Kinostart entfernt und ist in keiner bislang veröffentlichten Fassung enthalten. Auch nicht im – rund vier Minuten längeren – Director’s Cut, den Michael Mann 1989 für das US-Kabelfernsehen rekonstruierte. Treffsicher bemerkte Paul M. Sammon im Video Watchdog #13: „...unfortunately, it now seems unlikely that this unseen variation will resurface in any form other than that of surviving production stills or script extracts.“

 

Rückansicht von Dollarhydes tätowiertem Oberkörper

 

Vom Erwerb der VCL-Kaufkassette ist abzuraten. Auf dem Back-Cover wird mit dem Tattoo-Shot geworben, die Szene sucht man jedoch vergeblich. Außerdem basiert das Tape auf der stark gekürzten Fassung des Films, die im Sog des Kassenerfolgs THE SILENCE OF THE LAMBS erneut in den Kinos gestartet wurde. Laufzeit: ca. 98 Minuten!

Anm. 2: Warum die Kindheit Dolarhydes nicht verfilmt wurde, erklärte Michael Mann 1988 in Video View: „I didn’t deal with his past because I didn’t want to get involved with all those flashbacks to his childhood. I didn’t buy it and it slowed the action down too much.“

Anm. 3: In beiden Büchern, Roter Drache sowie Das Schweigen der Lämmer, erzählt Dr. Chilton eine Anekdote: Lecters Attacke auf eine Krankenschwester ohne Pulsbeschleunigung. In Roter Drache verliert die Krankenschwester ihre Zunge und ein Auge. In Das Schweigen der Lämmer bricht er ihr zusätzlich den Kiefer, um an die Zunge zu gelangen. Die filmische Umsetzung fand nur in THE SILENCE OF THE LAMBS statt. Dr. Chilton: „The doctors managed to reset her jaw, more or less. Saved one of her eyes. His pulse never got about eighty-five – even when he ate her tongue.“

 

IV. Der Künstler

Mildtätigkeiten gibt’s nicht mehr,
wär niemands Beutel leer,
und Mitleid kennt’ keiner hier,
wärn alle glücklich wie wir.

(William Blake: Lieder der Erfahrung, 1794)

William Blake wurde am 28. November 1757 im Londoner Stadtteil Soho, Broad Street 28, Golden Square geboren. Seine verständnisvollen Eltern förderten seine Neigungen und schickten ihn bereits 1767 auf Pars’ Zeichenschule. Dort begann er mit Hilfe der Eltern, Drucke nach Werken von Raffael, Michelangelo und Dürer zu sammeln.

Am 04. August 1772 kam Blake zu dem Kupferstecher James Basire in die Lehre. Obwohl sich Basire als ein nicht sehr anregender Lehrmeister erwies, blieb Blake sieben Jahre bei ihm. Die frühe Beschäftigung mit alten Meisterstichen und gotischen Bildwerken (Basire ließ ihn Zeichnungen für Kupferstiche von den gotischen Grabmälern der Westminster Abbey, die die Society of Antiquaries in Auftrag gegeben hatte, anfertigen) legte den Grundstein für Blakes Kunst.

Blake wechselte am 08. Oktober 1779 auf die Kunstschule der Royal Academy. Da er sich lieber seiner Phantasie und seinem Erinnerungsvermögen überließ und eine starke Abneigung gegen Antiken-Kopieren oder Modell-Zeichnen hatte, blieben seine Studien an der Royal Academy ebenso kurz wie erfolglos. Aber bereits hier lehnte sich Blake gegen die akademische Tradition und gegen den Rationalismus des 18. Jahrhunderts in jeder Form auf. So verließ er die Academy nach einem Jahr, um wieder als Kupferstecher seinen Lebensunterhalt zu sichern. Am 18. August 1782 heiratete er Catherine Boucher. Die Ehe verlief harmonisch, blieb jedoch kinderlos. Hilfreich standen ihm seine Frau und sein Lieblingsbruder Robert (1762-87) beim Abziehen und Einfärben der Kupferplatten zur Seite; schwer traf ihn Roberts früher Tod.

1783 erschien Blakes erster Gedichtband Poetische Skizzen. 1789 und 1794 folgten Lieder der Unschuld und Lieder der Erfahrung, ergänzt durch zwei prophetische Werke: Das Buch von Thel und Die Gesichte der Töchter Albions. Blake druckte seine Bücher – mit Ausnahme von Poetische Skizzen – eigenhändig. Das Spezialverfahren, das er dabei anwendete, den „illuminierten Druck“, entwickelte er selbständig. Bei diesem Verfahren wurde der Text mit Hand direkt auf die Kupferplatte geschrieben und zusätzlich mit Randfiguren und Zeichnungen geschmückt. Anschließend ätzte er die Platten, druckte einige Abzüge in verschiedenen Tönungen und band sie ein. Sobald sich Käufer fanden, kolorierten der Künstler oder seine Frau die Abzüge mit Wasserfarben.

Nach mehrfachem Wohnsitzwechsel übersiedelte Blake 1794 nach Lambeth, Hercules Building 13. Drei Jahre betrieb er sein Geschäft für Drucke. Das Resultat war ein Mißerfolg. In der Folgezeit suchte er immer häufiger die Gesellschaft von Sozialreformern wie Joseph Priestly, Thomas Paine, William Godwin und Mary Wollstonecraft. Schon aus seinen frühesten Werken geht eindeutig hervor, daß Blake die radikalen politischen Ansichten, ebenso wie ihre aufgeklärte Haltung gegenüber moralischen Vorurteilen, besonders im Hinblick auf sexuelle Freiheit, teilte. Aber Blake wollte seine visionären Fähigkeiten weiterentwickeln. Sein Ziel war nicht nur die Erlangung echter moralischer Freiheit, sondern die Verkündung einer Universalphilosophie. Ihr Inhalt: Die Plazierung der Phantasie und der Vision vor Vernunft und konventioneller Moral.

Bis 1800 blieb Blake in Lambeth. Diese sechs Jahre entwickelten sich zu einer Leidenszeit. Er war besessen vom Problem des Bösen und gelangte zum Manichäismus in seiner Weltanschauung. Die Verzweiflung steigerte sich noch durch Armut und mangelnde Anerkennung.

Blake verließ London im September 1800. In Felpham, bei Chichester in Sussex, arbeitete er für den Dichter William Hayley (1745-1820) als Kupferstecher. Hier begann er mit der Arbeit an seinem großen mystischen Epos Milton.

Thomas Butts, ein Regierungsbeamter, dessen Bekanntschaft Blake ungefähr 1793 machte und der bis 1810 sein wichtigster Gönner blieb, bestellte eine Serie von mehr als fünfzig kleinen Gemälden mit biblischen Themen. Die meisten führte der Künstler als Aquarelle aus, einige der früheren sind auch in Tempera gemalt. Die besseren dieser religiösen Kompositionen wiederholte Blake mehrfach. Der Große, Rote Drache und die mit der Sonne gekleidete Frau entstand in dieser Phase in verschiedenen Ausführungen.

1803 zog Blake zurück nach London, in die South Molton Street 17. Von 1804 - 1818 beschäftigte ihn die Arbeit am letzten und vollständigsten seiner großen symbolischen Bücher: Jerusalem. 1809 eröffnete er eine Ausstellung seiner Arbeiten im Laden seines Bruders James am Golden Square – erneut ein Mißerfolg. Das sorgenvolle Leben, geprägt von bitterer Armut, hatte 1818 ein Ende. Der Maler John Linnell förderte Blake und machte ihn mit dem Aquarellisten und Astrologen John Varley (1778-1842) bekannt. Varley bestellte ein Duplikat zum Buch Hiob, das Blake seit 1818 beschäftigte. John Linnell wiederum beauftragte Blake, eine Serie von Zeichnungen zu Dantes Göttlicher Komödie anzufertigen.

1820 zog Blake ein letztes Mal um, nach Fountain Court 3, London. Er begann sein bedeutendstes Spätwerk im Herbst 1824, das durch seinen Tod am 12. August 1827 unterbrochen wurde. Vollenden konnte er nur sieben Kupferstiche, 102 aquarellierte Bleistiftzeichnungen verblieben als Fragmente.

Blakes vor 1790 entstandenen Werke verraten keine besondere Eigenart. Sie „fügen sich mühelos in das Schema der vorromantischen Historienmalerei, einer wirren Mischung aus Neoklassizismus – der Wiedererweckung der griechischen Antike –, mittelalterlichen Einflüssen – der Wiederbelebung der Gotik – und modernen Ideen über das Erhabene und Malerische“ (Kindlers Malerei-Lexikon, Bd.1). Für Blakes sonderbare Themen gibt es keine befriedigende Erklärung. Inspiration bezog er aus der Bibel, von Shakespeare, Milton und natürlich aus seiner Phantasie. Das Gedicht Die Vermählung von Himmel und Hölle (1793) zeigt, wie er die Ideen der Mystiker Swedenborg, Böhme und Paracelsus weiterführte. In seinem Epos Milton versuchte er, die materielle Welt mit der des Geistes und der Seele in Einklang zu bringen. Die Suche nach einer harmonischen Weltordnung steht im Zentrum seines dichterischen Werkes.

In Jerusalem setzte er sich mit der Problematik des Universums auseinander, in Hiob mit der des Leidens. In beiden Werken zeigte er die Bereitschaft zu dem Eingeständnis, „daß die Schöpfung nicht durch und durch verdorben sei und eine Erlösung durch Christus im Bereich des Möglichen liege“ (Kindlers Malerei-Lexikon, Bd.1).

Seine Zeichnungen zu Dantes Göttlicher Komödie waren mehr Kommentar denn Illustration. Blake hatte für Dantes Vorstellungswelt wenig Verständnis; er wollte keine Religion bejahen, die behauptet, Gott nehme für die Sünden Rache. Die vielfältigen Deutungsmöglichkeiten jedes einzelnen Satzes erschwerten das Verständnis seiner symbolgeladenen Bücher. Eine Auflösung der Symbolik erwies sich ebenfalls als schwierig, weil Blake versuchte, eine eigene Mythologie zu kreieren. Sein Werk geriet in Vergessenheit. Erst William B. Yeats und Algernon Charles Swinburne erklärten seine Arbeiten hinreichend und machten sie einer breiten Öffentlichkeit zugänglich – zwei Generationen nach Blakes Tod.

 



Für Viktoria... (weil Du meine Träume bereicherst)



MANHUNTER (USA, 1986)
Regie: Michael Mann
Drehbuch: Michael Mann (nach dem Roman Roter Drache von Thomas Harris)
Kamera: Dante Spinotti
Länge: 120 Minuten (US-LaserDisc, NTSC)
Darsteller: William L. Petersen, Kim Greist, Dennis Farina, Brian Cox, Tom Noonan, Joan Allen, Stephen Lang, David Seaman u.a.


© Christian Barduhn, im Juli 2000    Index    Der Humanist