Die Kälte im Tresor

von
Christian Barduhn

 

WARNUNG!!! Wer David Finchers Film THE GAME noch nicht gesehen hat, sollte hier nicht weiterlesen – für meine Kritik ist es leider unumgänglich, das Ende zu verraten.

 

„Er (gemeint ist der Feind – C.B.) darf seines Eigentums beraubt werden, er darf auf jede Weise durch einen Scientologen geschädigt werden, ohne Strafverfahren durch Scientologen. Man darf ihm Streiche spielen, ihn belügen, betrügen oder vernichten.“
(Hubbard Communications Office, Policy Letter vom 18. Oktober 1966)

 

Obwohl David Finchers Film THE GAME durchweg positiv aufgenommen wurde, ließen es sich die Kritiker nicht nehmen, einen Wermutstropfen auszuschenken. Die „Berliner Zeitung“ bemängelte das Happy-End als Klischee; DER SPIEGEL warf dem Film vor, daß er sich mit seinem „schulterklopfenden Happy-End“ an die Zuschauerzahlen verkaufe; und KONKRET ärgerte sich darüber, daß am Schluß alles „zurückgenommen“ wird und der Zuschauer „beruhigt aufatmen darf“. Aber diese Kritiken, stellvertretend für viele, sind falsch, falsch, falsch. THE GAME ist, wie ALIEN3 und SE7EN, konsequent bis zur letzten Einstellung. Weil THE GAME, der Titel weist darauf hin (und die Titelwahl dürfte kaum ein Zufallsprodukt sein), tatsächlich nur ein Spiel ist. Das ist so verblüffend einfach wie genial. Wer etwas anderes vermutet oder gar erwartet, ist auf das „Spiel“ schon hereingefallen. Somit zeugen die oben genannten Kritiken von einer groben Mißachtung der durch den Film aufgestellten Spielregeln bzw. von einem tiefen Mißverständnis gegenüber Finchers Werk.


Doch von Anfang an: Nicholas Van Orten ist ein eiskalter Geschäftsmann, ein steinreicher Investment-Banker, den Michael Douglas spielt wie eine konsequente Weiterentwicklung seine Figur des Gordon Gekko in Oliver Stones WALL STREET (USA, 1987). Sein Leben verläuft in festgefügten Bahnen; Ablenkung gönnt er sich ebensowenig wie menschliche Gefühle – seine Sekretärin, die lediglich zu seinem Geburtstag gratuliert, ist ihm schon verdächtig. Sein riesiges Haus ist Flucht- wie Trutzburg zugleich, mit der eiskalten Atmosphäre einem Tresor nicht unähnlich. Seine Frau hat ihn längst verlassen. Da taucht sein Bruder Conrad (Sean Penn) auf und schenkt ihm zum Geburtstag eine Einladung des „Consumer Recreation Services“ (CRS), um mit einem Spiel Schwung in sein Leben zu bringen. Nach einigem Zögern geht Van Orten auf das Angebot ein und sucht das Büro von CRS auf. Dort eröffnet man ihm, daß keinerlei Angaben über das Spiel gemacht werden können, weil es auf jeden Teilnehmer individuell zugeschnitten wird. Er füllt stundenlang Fragebögen aus und läßt physische Belastungstests über sich ergehen. Dann schickt man ihn nach Hause, und, ohne daß es Van Orten ahnt, hat das Spiel längst begonnen. Die mysteriöse Schönheit Christine (so unglaublich cool wie immer: Deborah Kara Unger) kreuzt nicht zufällig seine Bahn...


THE GAME beschreibt, das ist nicht schwer zu erraten, den Weg einer Läuterung (etwas bösartiger könnte man auch von der vollständigen Brechung seiner Figur sprechen). Sie beginnt mit den seine ganze Allmacht spiegelnden Großaufnahmen von Michael Douglas’ Gesicht in den ersten Einstellungen und endet irgendwo im letzten Drittel des Films. Da ist Van Orten nur noch ein verwischter Schemen im Scheinwerferlicht auf einer Landstraße in Mexiko. Kaum auszumachen in der Nacht, sein bisheriges Wesen nahezu ausgelöscht. Van Orten spielt zum ersten Mal in seinem Leben und verliert prompt, weil er die Spielregeln nicht kennt, die völlige Kontrolle über seine gesamte Existenz. Zug um Zug verwandelt sich sein vertrautes Dasein in einen Alptraum, verändert sich die Welt in ein Spielbrett, auf dem er wie eine Figur herumgeschubst wird.


Der Regisseur David Fincher hat, ich erwähnte es bereits in meiner Kritik zu SE7EN, eine ausgesprochene Vorliebe für kritische Blicke auf die religiösen Spielarten der Gegenwart. In ALIEN3 zeigte er, zum Mißfallen des jugendlichen Publikums, den Zerfall einer klosterähnlichen Männergesellschaft, in die ein Feind – in Gestalt einer Frau! – eindringt. In SE7EN veranschaulichte er die systematische Zertrümmerung eines/der Menschen durch einen religiös geprägten Gerechtigkeitswahn. Und nun, in THE GAME, sind die Parallelen zu Scientology so offensichtlich, daß ich mich nur wundern kann, daß dieser Aspekt in keiner mir zugänglichen Kritik angesprochen wird.1


Van Ortens Leidensweg beginnt bei CRS mit einer Fülle von obskuren Fragebögen über sein Leben, seine Sexualität, sein Verhältnis zum Vater usw. Mit diesen zweifelhaften Persönlichkeitstests startet auch der gemeine Durchschnitts-Scientologe seine Karriere. Im Film wie im wirklichen Leben gibt der Teilnehmer damit seinen Gegenspielern jede nur gewünschte Information preis. Die gezielte Manipulation des Individuums wird dadurch zum Kinderspiel. „Ist Ihr Leben ein ständiger Kampf ums Überleben?“ und „Würden Sie lieber Befehle geben als empfangen?“ lauten zwei beliebig ausgewählte Fragen aus einem Scientology-Persönlichkeitstest für die Straßenwerbung. Fragen ähnlichen Kalibers muß auch Nicholas Van Orten beantworten. Später, als sein Leben schon eine einzige Fluchtbewegung ist, wird er feststellen, daß CRS seine gesamten Konten – privat wie geschäftlich – leergeräumt hat. Die finanzielle Ausplünderung, das Hauptbestreben jeglicher Religion, ist bei Scientology besonders ausgeprägt, sucht es doch Zugang zu neuer Gefolgschaft speziell über Managementtraining-Firmen und Unternehmensberatungen. Und die Preise für die nötigen Kurse, um in der Scientology-Hierarchie aufzusteigen, sprechen eine eigene Sprache.


Scientology-Aussteiger berichten immer wieder von telefonischen Belästigungen bis hin zu Morddrohungen. Regelrecht umzingelt fühlen sie sich von dieser Organisation. Ein Gefühl, das David Fincher gekonnt in die Filmsprache übersetzt: Vor einem Haus, in dem Van Orten beschossen wird, steht ein Lieferwagen mit der Aufschrift – wenn ich mich recht erinnere – „Cable Repair Systems“ (=CRS). Und auch die Lizenz eines Taxifahrers trägt die entsprechende Buchstabenkombination. Folgerichtig wird er samt Taxi in der San Francisco Bay versenkt.


THE GAME ist nicht nur eine Abhandlung über den Kontroll-, sondern auch über den Realitäts- und Identitätsverlust. Die Wahrnehmungsgrenzen zwischen Wirklichkeit und Illusion verschwimmen zusehends (z.B. redet ein Sprecher im Fernsehen Van Orten persönlich an). Bald kann Van Orten nicht mehr zwischen Freund und Feind unterscheiden, weil jeder und alles nach seinem Besitz und Leben trachtet. Und immer wieder muß er sich fragen, ob das alles noch ein Teil des Spiels ist oder längst grausame Wirklichkeit. Der Verlust von Realität und Identität ist auch ein spezifisches Kennzeichen für Sektenmitglieder jeglicher Couleur (Christen eingeschlossen). Das beginnt mit der Aufgabe des weltlichen Besitzes (die Sekte ist immer ein dankbarer Abnehmer), führt weiter über die Annahme eines neuen (Phantasie-)Namens und endet mit der totalen Fixierung auf den Guru (oder wer oder was auch immer der Sekte vorsteht).


Am Ende des Films, nachdem feststeht, daß alles nur ein Spiel war, ist Nicholas Van Orten ein anderer Mensch.2 Da steht er dann neben dem Auto von Christine, die ihn auf einen Kaffee einlädt. Er blickt auf das Gebäude, in dem die Party für ihn stattfindet, blickt in die andere Richtung, die Straße hinunter. Er lächelt, sie lächelt und es beginnt ein neues, ein anderes und auch ein schöneres Spiel.


David Fincher, dem man gar nicht genug dafür danken kann, daß er die – auch im metaphysischen Sinne – Dunkelheit auf die Leinwand zurückbrachte, ist derzeit einer der aufregendsten Hollywood-Regisseure. Seine Bilderwelten, die sich explizit an ein erwachsenes Publikum richten, werden immer faszinierender.




1 Eine religionskritische Rezeptionsweise ist in der deutschen Filmkritik eher die Ausnahme – das Gegenteil ist die Regel. Ein bemerkenswertes Beispiel dafür ist Peter Greenaways Film THE BABY OF MÂCON (GB/D/F, 1993). Darin geht es um die Demontage einer angeblichen Jungfrauengeburt und die Ausbeutung des Kindes bis über seinen Tod hinaus (Stichwort: Reliquienkult), und ist der einzige Film Greenaways, der sich speziell mit der Verlogenheit des Christentums auseinandersetzt. Und (deswegen) das einzige Werk dieses begnadeten Bilderstürmers, das vom deutschen Feuilleton geradezu haßerfüllt verrissen wurde.

2 Nun könnte der aufmerksame Leser natürlich einwenden, daß das Unwesen, das CRS betreibt, doch noch ein Gutes hat, weil Van Orten am Schluß (aus der Sicht seines sozialen Umfeldes und auch aus der Sicht des Zuschauers) ein besserer Mensch ist. Aber der Film beschreibt, wie gesagt, den Weg einer Läuterung. Die Mechanismen von Scientology verdeutlicht David Fincher zwischen den Bildern – für Menschen, die gewillt sind, zu sehen. Obwohl sich Primär- und Meta-Ebene einander bedingen, ist das Ende irrelevant.


THE GAME (USA, 1997)
Regie: David Fincher
Drehbuch: John Brancato, Michael Ferris
Kamera: Harris Savides
Länge: 128 Minuten (Kino)
Darsteller: Michael Douglas, Deborah Kara Unger, Sean Penn, James Rebhorn Peter Donat, Armin Mueller-Stahl, Carroll Baker u.a.


© Christian Barduhn, im Dezember 1997    Index    Der Humanist