Ludwig Schmugge: Kirche, Kinder, Karrieren Päpstliche Dispense von der unehelichen Geburt im Spätmittelalter
Inhalt:
Es ist noch nicht lange her, daß die Ungnade der
illegitimen Geburt das individuelle Schicksal in einer Art
bestimmte, wie dies heute kaum mehr vorstellbar ist. Im europäischen
Spätmittelalter kam es einem eigentlichen Verdikt auf Lebenszeit
gleich, wenn jemand aus einer nichtehelichen Verbindung stammte.
Illegitime Kinder waren meist nicht nur vom Erbgang
ausgeschlossen; verwehrt blieb ihnen auch der Zugang zu vielen
Berufen mit entsprechenden Karrieremöglichkeiten. Dabei war
Illegitimität keineswegs eine Randerscheinung. Laut Schätzungen
soll jedes dritte Kind davon betroffen gewesen sein.
Es gehört nun zu den vielen Widersprüchlichkeiten der spätmittelalterlichen
Gesellschaft, daß gerade jene Instanzen, welche mit ihren
Gesetzen und Normen maßgeblich verantwortlich waren für die
fast kastenmäßige Ausgrenzung der Illegitimen, gleichzeitig von
diesem Stigma befreien und damit den Weg für ein Leben in Ehren
ebnen konnten. Neben den weltlichen Autoritäten vor allem
den Kaisern und Königen war es insbesondere die mächtige
römische Kirche, welche einen Gnadenbrunnen unterhielt, an
dessen Wassern sich Heerscharen von Illegitimen aus aller Herren
Ländern labten. Insbesondere wer eine kirchliche Laufbahn
einschlagen und entsprechend zu den höheren Weihen etwa als
Priester zugelassen werden wollte, wandte sich an die dafür zuständige
Behörde, die päpstliche Pönitentiarie in Rom.
Zehntausende gelangten so im 15. und 16. Jahrhundert an die römische
Kurie und erbaten meist gegen klingende Münze eine
Dispens von ihrem Geburtsmakel, um im weiten Schoß der Kirche,
dem damals größten Arbeitgeber Europas, zu Amt und Pfründe zu
kommen. Wie sich die Legitimierung all dieser unehelich Geborenen
im einzelnen abspielte, wird in diesem Sachbuch erstmals
dargelegt. Der Autor konnte die bis 1986 unterVerschluß
gehaltenen Akten der vatikanischen Pönitentiarie einsehen und
hat für sein fundamentales Werk nicht weniger als 37.916
registrierte Dispense vom Geburtsmakel für die Zeit von 1449 bis
1533 gesichtet, interpretiert und statistisch erfaßt, ferner
exemplarisch einzelne Fälle welterverfolgt.
Was da in schnörkelloser, fast amtlich-nüchterner Darstellung
zutagetritt, belegt nicht nur die organisatorische Gewandtheit
dieser eigentlichen Verwaltung des Gewissens im
Umgang mit der Frage der Illegitimität, sondern reflektiert auch
in oft unerwarteter Schärfe gesellschaftliche Zustände der
damaligen Christenheit von Riga bis Lissabon, von Island
bis Kreta.
Unter die Bittsteller, die sich ans soziale Gnadenamt
in Rom wandten, reihten sich Findelkinder ebenso ein wie Bürgerstöchter
oder adlige Bastarden. Den Hauptharst bildeten aber und
das ist ein aus heutiger Sicht doch überraschendes Resultat
Sprößlinge, die unter Verletzung des Zölibats gezeugt worden
waren. Als Elternteile werden meist Priester, aber auch Diakone,
Mönche, Kanoniker, Äbte, Äbtissinnen und selbst Bischöfe
genannt, und oft kann sogar nachgewiesen werden, daß die
fehlbaren Väter oder Mütter jahrelang im eheähnlichen
Konkubinat lebten, ohne daß daran jemand Anstoß genommen hätte.
Schmugges Untersuchung beleuchtet ein bislang wenig beachtetes,
überaus spannendes Kapitel der spätmittelalterlichen Kirchen-
und Sozialgeschichte. Sie bestätigt auf eindrucksvolle Weise die
große Verbreitung konkubinärer Lebensformen in allen
sozialen Schichten, unter Laien wie unter Gott geweihten Personen,
macht aber auch deutlich, daß sich in keinem andern Sektor
der spätmittelalterlichen Welt [...] den Illegitimen bessere
Chancen zur Integration in die Gesellschaft boten als in
der Kirche.
Autor:
Ludwig Schmugge, geb. 1939 in Berlin, seit 1979 Ordinarius für Geschichte des Mittelalters an der Universität Zürich. Langjährige Forschungsaufenthalte am Deutschen Historischen Institut in Rom und am Institute of Medieval Canon Law in Berkley, Kalifornien. 1991/92 Stipendiat des Historischen Kollegs in München.
Artemis & Winkler ISBN: 3-7608-1110-8
Erstellt von Christian Barduhn | Titelliste: Religion | Index | Der Humanist |