Erik Möller / Matr.-Nr. 690701
Perzipierte Folgen von Digitalisierung und Vernetzung

Referat zur Lehrveranstaltung Technikfolgenabschätzung / Technische Fachhochschule Berlin
Dozent: Prof. Dr. Raban Graf von Westphalen
Version 1.1, 11.7.1999


Inhalt:


Die Kernfrage, die in diesem Referat behandelt werden soll, lautet: Wie sehen die möglichen Folgen der Digitalisierung von Informationen und der Vernetzung von Computersystemen für Recht, Wirtschaft, Wissenschaft und soziale Strukturen und damit für die Gesellschaft aus? Aufgrund der Komplexität der Thematik habe ich den Weg des ausformulierten Vortrags gewählt. Zwischenfragen sind jedoch willkommen. Die gemachten Prognosen beschränken sich auf die nahe Zukunft, hier definiert als das kommende Jahrzehnt. Aufgrund der hohen Entwicklungsgeschwindigkeit im Bereich der Informationstechnologie sind Prognosen über einen größeren Zeitraum nur schwer möglich.

Einleitung

Einleitend möchte ich die Bedeutung der Informationstechnologien herausstellen. Die wohl wichtigste Fähigkeit, in der sich der Mensch signifikant von den Tieren unterscheidet, ist die Fähigkeit zur Aufnahme, Verarbeitung und Weitergabe von Informationen. Diese Fähigkeit hat sein Überleben über die Jahrhunderte gesichert und die menschliche Kultur erst ermöglicht. Jede Technik, die den Umgang des Menschen mit Informationen verändert, hat daher größten Einfluß auf die gesamte menschliche Gesellschaft.

Die größten Umwälzungen in der Informationstechnologie haben sich in diesem Jahrhundert vollzogen. Das Telefon und der Fernseher wurden zu alltäglichen Haushaltsgegenständen, Bücher und Zeitungen sind produktionstechnisch gesehen zu Schüttgut geworden. Erst in den letzten zwei Dekaden des 20. Jahrhunderts erlangten Computer eine größere Bedeutung für die Allgemeinheit. Technikhistorisch gesprochen sind die Heimcomputer von heute die Automobile der 20er Jahre und somit die Oldtimer von morgen. Und doch hat die rasante Entwicklung des Computers bereits einschneidende Veränderungen in der menschlichen Gesellschaft hinterlassen. Um so interessanter ist die Frage, was die Zukunft noch für Überraschungen bereithält. Von der Vielzahl technischer Möglichkeiten des Computers interessieren uns hier nur Digitalisierung und Vernetzung. Diese beiden Begriffe bedürfen einer näheren Erläuterung.

Digitalisierung

Wenn ein zeitkontinuerlicher Informationsfluß, zum Beispiel ein Tonsignal, in eine Ziffernfolge umgewandelt wird, spricht man von Digitalisierung. Das Ergebnis ist immer nur eine Annäherung an das analoge Ursprungssignal, da eine exakte Reproduktion eine unendlich lange Ziffernfolge benötigen würde, so, als würde man versuchen, den gesamten Zwischenraum zwischen zwei reellen Zahlen aufzuschreiben. Wenn die Abtastfrequenz, d.h. die Häufigkeit, mit der innerhalb einer gegebenen Zeiteinheit das analoge Signal abgefragt und in Ziffern umgewandelt wird, hinreichend groß ist, macht dies für den Benutzer der digitalisierten Informationen keinen Unterschied mehr. Ansonsten kommt es zu spürbaren Qualitätsverlusten.

Daten, die auf Speichermedien für Computer Platz finden, sind grundsätzlich in digitaler Form gespeichert. Die Größe des Speicherplatzes bestimmt die Qualität speicherbarer digitaler Signale. Dabei benötigt Text sehr viel weniger Speicherplatz als Bilder oder Töne. Die ersten Heimcomputer Anfang der 80er Jahre stellten gerade genug Speicherplatz für einen längeren Brief oder einfache Strichzeichnungen zur Verfügung. Moderne PCs können auf ihren Speichermedien mehrere Stunden Farbfilm, Hunderte von Musikstücken in CD-Qualität und Tausende von Büchern speichern. Im Unterschied zu analogen Kopiervorgängen ist das digitale Kopieren darüber hinaus verlustfrei.

Vernetzung

Computer können nicht nur einzeln betrieben werden, sie können auch mit anderen verkabelt werden. So können Informationen von einem Computer zum anderen übertragen werden. Ursprünglich wurde diese Möglichkeit nur vom Militär, in Firmen und in Universitäten eingesetzt. So war es zum Beispiel innerhalb eines Fachbereichs möglich, wichtige Daten schnell auf mehrere Systeme zu überspielen. Es versteht sich von selbst, daß die Möglichkeiten der Vernetzung wachsen, je mehr Computer an das gleiche Netz angeschlossen sind. Gleichzeitig steigen die Kosten, und Fragen der Informationssicherheit kommt eine größere Bedeutung zu. 1973 entwickelte die Forschungsprojektagentur ARPA (Advanced Resarch Projects Agency) im Auftrag des US-Verteidigungsministeriums Programme und Technologie zur Vernetzung von Computersystemen in großer Entfernung bei gleichzeitig hoher Ausfallsicherheit.1 Daten werden dabei wie in herkömmlichen Netzen auch über mehrere Systeme zu einem Zielcomputer übertragen. Wenn in einem so aufgebauten Netz ein Computer ausfällt, sucht sich die Technologie automatisch den nächstbesten Weg zur Übertragung der Daten, sofern einer existiert. Diese Technologie, das sogenannte ARPA-Net, sollte die Übertragung wichtiger Daten sogar nach einem Atomkrieg erlauben.

Die Technik des ARPA-Net ist die des heutigen Internet. 1984 wurde sie privaten und öffentlichen wissenschaftlichen Agenturen zur weiteren Entwicklung übergeben. 1 Das Internet ermöglichte immer mehr Universitäten den Austausch von Informationen untereinander. Das Interesse der Öffentlichkeit hielt sich jedoch zunächst in Grenzen, da der Zugang für Privatpersonen in der Regel unerschwinglich war und die eingesetzten Programme eine große Einarbeitungszeit benötigten. 1989 entwickelte das Hochenergie-Physik-Forschungszentrum CERN das sogenannte World Wide Web, welches einen völlig neuartigen Zugriff auf Informationen erlaubte. Jeder Computer im Internet, der über entsprechende Software verfügt, kann sogenannte Webseiten zur Verfügung stellen. Diese können Texte, Bilder, Töne, Videos und Programme enthalten. Und ähnlich einem Spinnennetz kann sich eine Webseite mit vielen anderen verbinden, unabhängig von deren geographischer Entfernung und thematischer Ausrichtung.

Anmerkungen zur angewandten Methodik

Die hier angewandte Methodik zur Prognose der möglichen Folgen von Digitalisierung und Vernetzung entspricht im wesentlichen einer Kombination aus Trendextrapolation und historischer Analogienfindung.7 Es wird davon ausgegangen, daß sich alle angesprochenen Techniken mit der bisherigen Geschwindigkeit weiterentwickeln. Gemäß dieser Annahme werden Schätzungen der zukünftigen Technikeigenschaften errechnet, die im Detail hier aus Gründen der Kompaktheit und Verständlichkeit weggelassen wurden. Anschließend werden historische Analogien zu potentiellen zukünftigen Entwicklungen gesucht und die hier historisch beobachteten Technikfolgen unter Berücksichtigung der extrapolierten Daten auf die zukünftige Entwicklung übertragen.

Abzusehende technisch-ökonomische Entwicklung

Für die Zukunft sind zu erwarten: Eine drastisch gesteigerte Übertragungsgeschwindigkeit (dazu später mehr), um mehrere Zehnerpotenzen größere Massenspeicher für den Hausgebrauch sowie die zunehmende Verbreitung des Internet oder eines vergleichbaren Mediums in Haushalten, insbesondere durch die Einführung von Multifunktionssystemen. Mikrowellen oder Kühlschränke mit Internet-Zugang rufen bei den meisten Konsumenten mehr Schmunzeln als ernsthaftes Kaufinteresse hervor, sind aber bereits Realität. Auch Fernseher, die gleichzeitig als Internet-Terminals fungieren, sind unter dem Preis von 1000 DM zu haben. Da der Zugang zum Netz selbst kostenpflichtig ist (üblich ist eine monatliche Pauschalgebühr zuzüglich der Verbindungskosten), werden viele Hersteller dazu übergehen, die Hardware zu Schleuderpreisen auf den Markt zu bringen (bis hin zu "kostenlosen" Internet-Rechnern). Die Kunden kompensieren den Kostenvorschuß durch vertraglich erzwungene Nutzung des Internet-Zugangs, der meist teurer als marktüblich ist. Entsprechende Angebote gibt es bereits jetzt in Europa und in den USA.

Auch Angebote, die den Kunden zwar nicht an einen Internet-Provider binden, aber dafür die regelmäßige Nutzung von Internet-Einkaufsangeboten erfordern – ähnlich einem Buchclub – existieren bereits und werden sicherlich in Zukunft größere Popularität erlangen. Bereits kurzfristig wird sich Deutschland außerdem der in Teilen Europas und in den USA üblichen Praxis beugen müssen, Internet-Verbindungen nicht zeitabhängig, sondern pauschal abzurechnen. Damit sind Dauerverbindungen ins Internet zu vernachlässigbaren Kosten möglich.

Bedeutung für das Recht

Mittels Digitalisierung und Vernetzung lassen sich Informationen aus der nichtdigitalen Welt einer breiten Anzahl von Menschen über Datenleitungen zur Verfügung stellen. Computer können aber nur in begrenztem Umfang entscheiden, ob der Empfänger bestimmte Daten überhaupt erhalten darf oder nicht. Ende der 90er Jahre erlangten diese Fragen mit der breiten Verwendung des Internet im privaten Bereich große Bedeutung. So wurde 1998 der Betreiber des Internet-ähnlichen Dienstes CompuServe, Felix Somm, vom Münchner Amtsgericht zu einer zweijährigen Gefängnisstrafe verurteilt, die gegen Zahlung einer Geldstrafe von 100.000 DM auf Bewährung ausgesetzt wurde. Die Begründung: CompuServe hätte nicht hinreichend dafür Sorge getragen, daß durch die Verwendung des Internet-Dienstes Usenet keine Kinder- und Tierporngoraphie abgerufen werden könnte. 2

Etwa zum gleichen Zeitpunkt erlangte ein digitales Speicherungsformat für Musikdateien größere Bekanntheit. Dieses erlaubt mittels Verfahren der sogenannten Datenkompression, komplette Musikstücke in akzeptabler Geschwindigkeit über das Internet zu übertragen. Ich sagte bereits im November 1997 in einem Artikel die daraus resultierenden Konflikte mit der Industrie voraus 3. Der eigentliche Kampf der Plattenindustrie gegen das sogenannte MP3-Format begann erst 1999. Internet-Seiten, die illegal kopierte Musikstücke zur Verfügung stellten, wurden massenweise geschlossen. Abspielgeräte für unterwegs sollten verboten werden. Und ein neuer Kompressionsstandard soll digital gespeicherte Musikstücke mit einem Kopierschutz versehen.

Interessant für die Zukunft ist also vor allem die Frage, wie neue Technologie sich auf die Verbreitung illegaler Inhalte (nach dem Urheberrecht und nach dem Gesetz zur Verbreitung jugendgefährdender Schriften) auswirken wird. Von essentieller Bedeutung für das Internet ist die Übertragungsgeschwindigkeit von Rechner zu Rechner. Derzeit liegt diese mit den üblicherweise eingesetzten Techniken bei etwa zwei Schreibmaschinenseiten pro Sekunde. Für Texte ist dies vollkommen ausreichend. Musik kann damit zwar in CD-Qualität übertragen werden, allerdings nicht in Echtzeit, d.h., der Benutzer muß ein Musikstück zunächst auf seinen Computer laden und kann es dann erst abspielen. Bei Echtzeitübertragungen ist die Qualität noch unter der guten Radioempfangs. Und Videoübertragungen, bei denen zum Ton noch bewegte Bilder hinzukommen, sind derzeit kaum realisierbar.

Natürlich hängt somit die Verbreitung illegaler Inhalte grundsätzlich von ihrer technischen Machbarkeit ab, weshalb zum Beispiel kinderpornographische Videos über das Internet kaum übertragen werden können. Doch das Beispiel MP3 hat gezeigt, daß die Verbreitung illegaler Inhalte von weiteren Variablen abhängig ist. Dazu gehört die Einfachheit, mit der es möglich ist, die entsprechenden Inhalte zu digitalisieren, die Größe der Gefahr, zivil- und strafrechtlich belangt zu werden und die Größe der potentiellen Zielgruppe des digitalisierten Werks. Bei Musikstücken haben alle diese Variablen einen kritischen Wert erreicht. Die Digitalisierung von Musik erfordert einen Aufwand von wenigen Minuten. Fast jeder moderne Computer verfügt über die notwendige technische Ausrüstung. Die Übertragung ist wie bereits erwähnt mit den derzeitigen Übertragungstechniken in hinreichender Geschwindigkeit möglich. Und eine breitere Zielgruppe als bei Musik gibt es nur bei wenigen anderen Informationen, so daß ein breiter illegaler Tauschmarkt für digital gespeicherte Musik entstanden ist.

Andere Informationsarten wie Bücher und Videos werden nur deshalb nicht in großen Mengen illegal getauscht, weil eine oder mehrere der genannten Variablen noch nicht ihren kritischen Wert erreicht haben. Für Bücher gilt dies insofern, als der Aufwand, ein Buch zu digitalisieren, derzeit für 300 Seiten bei etwa 10 Stunden liegt 4. Darüber hinaus ist die Zielgruppe eines Bestseller-Romans zwar sehr groß, aber jemanden zu finden, der am illegalen Austausch von Fachliteratur interessiert ist, ist weit schwieriger. Bei der geringen Zahl der potentiellen Täter steigt auch das Risiko des einzelnen, und der "Nutzen" in Form getauschter Bücher ist gering.

Im Juni 1999 stellte ich beim virtuellen Besuch eines Internet-Rechners im südosteuropäischen Moldawien fest, daß bereits der Wegfall der zivil- und strafrechtlichen Verfolgung ausreichen würde, um die übrigen Variablen auf ihre notwendigen kritischen Werte zu bringen. Offensichtlich wird das Urheberrecht in Osteuropa eher lasch gehandhabt, jedenfalls fanden sich auf diesem Rechner vollständige digital gespeicherte Bücher von unzähligen populären westlichen Autoren wie Stephen King und Umberto Eco in russischer Sprache, natürlich auch etliche Bücher russischer Autoren, ebenso wissenschaftliche Artikel (zu Themen wie Aktienmarktvorhersage und Selbstorganisation neuraler Netzwerke), die teilweise auch aus Deutschland stammten. Daneben beherbergte der Server unzählige digitalisierte Musikstücke im MP3-Format.

Voraussichtlich werden aber die Verlage selbst für die eigentliche Revolution bei der Verbreitung illegaler Textinhalte sorgen. Anfang 1999 wurden die ersten sogenannten E-Books öffentlich vorgestellt. Das sind sehr kleine Computer, die über einen flimmerfreien Flachbildschirm verfügen und nur den Zweck haben, digitalisierte Bücher anzuzeigen. Mehrere große Buchhändler haben angekündigt, künftig auch Bücher im E-Book-Format anzubieten, und der Buchhändler Barnes and Noble tut dies bereits seit einiger Zeit, auch mit Bestsellern wie der Lebensgeschichte Monica Lewinskys. Die Bücher werden im Internet zum Herunterladen angeboten, man überträgt sie vom PC auf das E-Book und kann sie dann überall lesen. Um sicherzustellen, daß die digitalisierten Bücher nicht kopiert werden, werden Verschlüsselungstechniken angewandt, wie sie auch die Musikindustrie plant.

Das Problem besteht hierbei nicht so sehr in findigen Crackern, die die komplizierten Algorithmen knacken und damit den Kopierschutz brechen könnten. Tatsächlich sind solche Algorithmen entgegen aller Legendenbildung meist hinreichend sicher für die derzeit verwendeten Computer. Dies beweisen "Crack-Challenges", in denen Hacker aus aller Welt dazu aufgefordert werden, mittels eines bestimmten offenliegenden Algorithmus verschlüsselte Daten innerhalb möglichst kurzer Zeit zu entschlüsseln. Oft benötigt die Entschlüsselung mehrere Monate, und auch ihre Reproduktion mit einer leicht veränderten verschlüsselten Botschaft würde den gleichen Hacker wieder etwa den gleichen Zeitaufwand kosten. Hinzu kommt, daß bei Verfahren der Primzahlenfaktorisierung mit steigender Schlüssellänge der Aufwand exponentiell zunimmt, so daß bestimmte Algorithmen mathematisch gesehen nur mit einem zeitlichen Aufwand zu knacken sind, der auch bei den schnellsten Computern größer ist als das Alter unseres Universums.

Diese Vorstellung mag die Verleger elektronischer Bücher in Sicherheit wiegen. Es ist aber schlicht und einfach so, daß die Digitalisierung von Inhalten auf einem Computerbildschirm verlustfrei und in hoher Geschwindigkeit möglich ist. Von den so erzeugten Bilddateien lassen sich aufgrund der einheitlichen Schrifttypen problemlos wieder digital gespeicherte Texte erzeugen, die dann im Internet illegal getauscht werden können. Jegliche Verschlüsselung wird damit hinfällig, und ein einziger Cracker kann Hunderte oder gar Tausende von Büchern in wenigen Stunden digitalisieren und im Netz verbreiten. Einen wirksamen Schutz gegen solche "Kopien durch die Hintertür" gibt es nicht.

Bei Videos dürfte die Kopierbarriere noch viel früher durchbrochen werden. Mittlerweile ist das nötige technische Equipment zur Digitalisierung von Videofilmen für unter 1000 DM erhältlich, und sobald das Internet über entsprechende Bandbreite verfügt, dürfte ein riesiger Tauschmarkt für illegal kopierte Videos entstehen. Bereits heute werden Kinofilme wie Star Wars kurz nach dem Erscheinen digitalisiert, auf CD-ROMs gebrannt und illegal gehandelt.

Der notwendige Sprung in der Übertragungsgeschwindigkeit des Internet dürfte sich noch vor der Jahrtausendwende 2001 vollziehen. In den USA und in Teilen Europas ermöglichen die Leitungen des Kabelfernsehens sehr hohe Übertragungsgeschwindigkeiten, und auch die Stromleitungen können zur schnellen Datenübertragung genutzt werden. In Deutschland plant die Telekom den Start der Übertragungstechnik ADSL noch in diesem Jahr, auch sie erlaubt die Echtzeitübertragung von Videos und Musik in CD-Qualität. Es handelt sich bei den neuen Techniken um eine Erhöhung der bisherigen Übertragungsgeschwindigkeit um den Faktor 10 bis 100.

Datenschutz

Den meisten Datenschützern graut angesichts der technischen Möglichkeiten des Internet. Ich habe in mehreren Artikeln10 auf die Sicherheitsrisiken bei der Übermittlung von E-Mail und der Nutzung des World Wide Web hingewiesen. Zu diesen Risiken gehört nicht nur die Ausnutzung von Sicherheitslöchern in der verwendeten Software, um private Daten des Benutzers auszuspionieren, sondern auch die Übertragung gefälschter E-Mails sowie die gezielte Erstellung von Benutzerprofilen, die neben besuchten Webseiten auch verwendete Parameter bei Suchmaschinen und getätigte Einkäufe bei Internet-Geschäften beinhalten können. Dies soll hier im Detail nicht näher erläutert werden. Tatsache ist jedoch, daß bei den meisten Nutzern der neuen Medien kein Sicherheitsbewußtsein vorhanden ist.

Es kann deshalb bereits jetzt mit Sicherheit gesagt werden, daß ohne staatliche und private Aufklärung im Bereich der Computersicherheit hier der Nährboden für einen neuen Cyber-Terrorismus entsteht, dessen Folgen mit zunehmender Digitalisierung und Vernetzung immer verheerender werden. So könnten bezahlte Cracker bereits heute Kinderpornos auf die Festplatten eines Managers überspielen und dann mit einem Anruf bei der Polizei den lästigen Konkurrenten aus dem Wege schaffen. Auch gefälschte E-Mails mit fatalen Anweisungen in sicherheitsrelevanten Bereichen z.B. eines Chemieunternehmens sind möglich, werden doch Mitarbeiter von Unternehmen oder Universitäten kaum darüber aufgeklärt, wie eine falsche E-Mail von einer echten unterschieden werden kann. Die genannten Möglichkeiten bilden hierbei nur einen kleinen Ausschnitt des theoretisch Denkbaren. Interessierte seien auf meine Artikel zum Thema verwiesen.

Strafverfolgung

Es ist davon auszugehen, daß mit dem Wachstum des Tauschmarktes für Raubkopien auch die Strafverfolgung zunimmt und aufgrund des Drucks der Industrie härtere Gesetze verabschiedet werden. In einem weiteren Artikel über das MP3-Phänomen habe ich über entsprechende Gesetzentwürfe aus Europa und den USA berichtet6. Die Industrie geht davon aus, auf diesem Wege Verluste aus Raubkopien hinreichend einschränken zu können. Dabei wird aber möglicherweise eine wichtige Entwicklung vernachlässigt, die mit der Erhöhung der Übertragungsgeschwindigkeit einhergeht und mit der Architektur des Internet zusammenhängt.

Für die Verbreitung illegaler Inhalte wurden bisher hauptsächlich eigene, speziell dafür installierte Rechner, sogenannte Server, eingesetzt. Die derzeitige Internet-Geschwindigkeit erlaubt Benutzern herkömmlicher Verbindungen nämlich gerade mal den Abruf von ein oder zwei interessanten Dateien zur gleichen Zeit, wenn die Übertragungszeit ihren kritischen Wert nicht unterschreiten soll. Stellt ein Benutzer mit einer Standard-Verbindung also illegale Dateien zur Verfügung, kann er selbst nicht mehr das Internet nutzen und zahlt gleichzeitig Telefongebühren für den Abruf von Inhalten von seinem Rechner. Nur ein Server mit einer überdurchschnittlich schnellen Internet-Verbindung kann mehrere Nutzer gleichzeitig in hinreichender Geschwindigkeit mit den illegalen Inhalten versorgen. Die illegalen Server sind jedoch leicht ausfindig zu machen, die Polizei hat hier leichtes Spiel, da die Server meist permanent mit dem Netz verbunden sind und die hinter dem Server stehende postalische Adresse bei dessen Anmeldung angegeben werden muß.

Wenn aber die Internet-Geschwindigkeit dramatisch ansteigt, so kann jeder Internet-Benutzer seinen Rechner selbst zum Server machen. Wie schon erwähnt ist die Speicherkapazität dabei kein Problem. Mit einer ADSL-Verbindung zum Beispiel können dann 10 Benutzer gleichzeitig digitale Musikdateien in hinreichender Geschwindigkeit vom eigenen Rechner herunterladen. Bei mittlerweile über 90 Millionen Internet-Nutzern, die keineswegs permanent im Netz sind, und deren Internet-Adresse oftmals mit jeder erneuten Anmeldung neu vergeben wird, gestaltet sich die zivil- und strafrechtliche Verfolgung als Suche im Heuhaufen. Mit dem sinkenden Risiko steigt auch die Bereitschaft einzelner, illegale Inhalte ins Netz zu setzen.

Bedeutung für die Wissenschaft

Insbesondere in der Wissenschaft dürfte die illegale Anwendung von Digitalisierung und Vernetzung eine eher untergeordnete Rolle spielen. Wichtige Veränderungen ergeben sich hier vor allem aus der schnelleren Verfügbarkeit digitaler Dokumente. Dauert es oft Monate von der Bewilligung bis zur Veröffentlichung eines wissenschaftlichen Artikels ist dies ein Prozeß, der mittels des World Wide Web in wenigen Tagen abgeschlossen werden kann. So bietet etwa der Springer-Verlag für verschiedene seiner Fachzeitschriften seit Mitte 1999 den Dienst "Online First" zur Erstveröffentlichung von Artikeln im Internet8, und verschiedene Universitäten stellen auf sogenannten "Preprint-Servern" kostenlose Voltlexte wissenschaftlicher Artikel im voraus zur Verfügung.9 Die weitere Verbreitung dieser Techniken dürfte zu einer Beschleunigung der Entwicklungszyklen führen.

Das Programm "Third Voice" liefert einen Ausblick darauf, was theoretisch möglich ist. Es erlaubt jedem Besucher einer Internet-Seite, an jeder beliebigen Textstelle eine Anmerkung zu hinterlassen, die wiederum Verweise auf andere Texte enthalten kann. Die Anmerkung wird dabei unabhängig von dem eigentlichen Text gespeichert, dessen Autor hat keine Möglichkeit, sich gegen die Kommentierung seines Werkes zu wehren, wenngleich jeder Leser die Kommentare auf Wunsch ausblenden kann. Die Anwendung solcher Programme könnte zu einem völlig neuen Umgang mit Wissen führen, wobei die Stimme der Millionen Internet-Benutzer laut genug wäre, um jeden Elfenbeinturm zu sprengen.

Die Verfügbarkeit nahezu beliebiger Informationen an nahezu jedem Ort der Welt bedeutet auch, daß es immer wichtiger wird, auszuwählen – die Krtierien, nach denen dies geschieht, hängen von der Gesamtentwicklung der Gesellschaft ab. Und davon hängt auch ab, ob Digitalisierung und Vernetzung schließlich Grenzen zwischen Wissenschaft und übriger Gesellschaft abbauen helfen, oder ob es zu einer stärkeren Polarisierung kommt, wobei immer weniger Menschen an wissenschaftlichen Informationen interessiert sind und die Hauptanwendung des Internet in der Bereitstellung von Unterhaltungsmedien liegt.

Bedeutung für die Wirtschaft

Angesprochen werden muß auch die mögliche Bedeutung von Digitalisierung und Vernetzung für die Wirtschaft. Der Übergang in die Dienstleistungsgesellschaft ist gleichzeitig ein Übergang in die Informationsgesellschaft. Auf der anderen Seite erlauben digitale Medien es, die wirtschaftlichen Erzeugnisse einer Informationsgesellschaft nahezu beliebig – auf illegale Weise – zu vervielfältigen. Angesichts dieser Tatsachen erscheint es fraglich, ob das Konzept der Lohnerwerbsarbeit das kommende Jahrhundert überstehen kann. Auch hier kann ein Beispiel aus der heutigen Zeit einen Ausblick darauf liefern, wie Arbeit sich in Zukunft gestalten könnte.

Computer können ohne Programme nicht benutzt werden. Ein Beispiel für ein typisches Programm ist eine Textverarbeitung, die das Schreiben von Briefen am Computer erlaubt. Die Konkurrenz milliardenschwerer Software-Unternehmen wie Microsoft bilden aber nicht nur andere Mega-Unternehmen, sondern auch idealistische Gruppen von Computer-Profis, die ihre Programme kostenlos schreiben, wobei jeder, der über die entsprechenden Kenntnisse verfügt, das Ergebnis beliebig verändern darf und soll. Diese sogenannte "Open Source Community" hat bereits ein komplettes Betriebssystem namens Linux entwickelt, das in Konkurrenz zu etablierter Software wie Windows 98 tritt.

Es handelt sich hierbei um einen sehr produktiven "Markt", dessen Entwicklunsgeschwindigkeit die kommerzieller Unternehmen bei weitem übersteigt. Angetrieben wird dieser Markt ausschließlich von der Motivation seiner Teilnehmer.

Bedeutung für soziale Strukturen

Angesprochen werden muß im Zusammenhang mit dem Internet auch die Frage der Vereinsamung aufgrund zunehmender Abgetrenntheit von der "realen" Außenwelt und zunehmender Flucht in die "virtuelle" Innenwelt des Computers. Viele mögen hier bereits einen Widerspruch entdecken, führt doch die Vernetzung von Computern zwangsläufig zu erleichterten Kontakten zwischen Menschen. Es ist über das Internet ohne weiteres möglich, gleichzeitig mit Freunden auf allen Erdkontinenten zu sprechen, sofern man sich auf eine Sprache verständigen kann. Allerdings muß darauf hingewiesen werden, daß bei dieser Form der Kommunikation sehr viele Elemente eines "natürlichen" Gesprächs verlorengehen: die Gestik und Körperhaltung, der Gesichtsausdruck, die Stimmlage und Betonung, die Sprechgeschwindigkeit, um nur einige zu nennen.

Dies kann dazu beitragen, Gespräche zu objektivieren. Aber da Menschen keine ausschließlich rational funktionierenden Lebewesen sind, neigen sie dazu, diese Kommunikationselemente irgendwann zu vermissen. So ist es nicht verwunderlich, daß die Teilnehmer von Internet-Gesprächszirkeln jede Gelegenheit nutzen, um einander im "wirklichen" Leben näher kennenzulernen. Und ebensowenig ist die Hilflosigkeit verwunderlich, mit der exzessive Internet-Nutzer einander begegnen. Denn die Deprivation bestimmter Kommunikationsmechanismen führt irgendwann zwangsläufig zu Schwierigkeiten in ihrer Anwendung. Außerdem ist es wissenschaftlich erwiesen, daß das dauerhafte Fehlen von Körperkontakt zu neurophysiologischen Schädigungen führen kann, welche letztlich schlimmstenfalls in deviantem Sozialverhalten wie Kriminalität, Drogenmißbrauch und Gewalttätigkeit kulminieren.11

Es ist jedoch zweifelhaft, ob sich wirklich sichbare negative Folgen aufgrund zunehmender Vernetzung einstellen werden. Tatsächlich könnte das Internet sogar einige Menschen aus ihrer Isolation reißen, wenngleich dies nur der erste Schritt zu einem gesunden Sozialleben wäre. Denn bereits heute steht mit dem Fernseher in den meisten Haushalten ein Gerät, das nachgewiesenermaßen dem Sozialleben abträglich ist. Es ist fraglich, ob diejenigen, die sich dem mächtigen Bann des Fernsehens entziehen konnten, durch das Internet in die soziale Vereinsamung getrieben werden. Auf der anderen Seite könnten exzessive Fernsehnutzer durch das Netz zumindest einen Teil eines natürlichen sozialen Verhaltensspektrums zurückgewinnen.

Schlußfolgerungen

Digitalisierung und Vernetzung werden zweifellos auch in Zukunft zu gewaltigen Umwälzungen in der Gesellschaft führen. Interaktive Medien könnten unzählige "Ideenmärkte" wie die genannte Open-Source-Community hervorbringen. Dazu ist aber gesetzgeberisches Augenmaß erforderlich. Kann man ein Gesetz aufrechterhalten, das von der Mehrzahl der Internet-Anwender verletzt wird? Das gilt besonders für das Urheberrecht, das kaum noch mit der Realität zusammenpaßt. Es gilt aber zum Beispiel nicht für das Gesetz zur Verbreitung kinderpornographischer Inhalte, da deren Nutzer nur einen winzigen Bruchteil der Internet-Nutzer ausmachen. Tatsächlich könnte die Verbreitung von Kinderpornographie effektiver verfolgt werden, wenn es zu einer Lockerung der Urheberrechts-Gesetze käme. Statt den riesigen Tauschmarkt für urheberrechtlich geschütztes Material zu durchsuchen, könnten sich Internet-Fahnder auf die in geringer Zahl vorkommenden kinderpornographischen Inhalte konzentrieren.

Eine Lockerung des Urheberrechts würde des weiteren zu einer größeren Vielfalt in allen Bereichen der menschlichen Kultur führen. Die Open-Source-Community beweist, daß der freie Austausch von Informationen deren Verarbeitung beschleunigt, ohne daß eine monetäre Motivation den entsprechenden Aktivitäten zugrundeliegen muß. Eine somit denkbare auf Eigenmotivation basierende Informationsgesellschaft kann sich allerdings nur dann wirklich entwickeln, wenn der einzelne vom Staat oder von Unternehmen hinreichend finanziell oder in Naturalien unterstützt wird, um ihm eine Existenz bei akzeptabler Lebensqualität zu ermöglichen. Dies ist aber mit dem bisherigen Verständnis von Arbeit kaum möglich. Denkbar sind zum Beispiel Registrierungsstellen für gemeinnützige Projekte, die vom Staat auf einer Ebene deutlich über der Sozialhilfe finanziert würden. Auch die Wirtschaft hätte an der Förderung solcher Projekte ein Interesse, denn die daraus resultierenden Erkenntnisse kämen ihr letztlich direkt oder indirekt zugute.

Radikales Umdenken ist aber nicht nur sinnvoll, sondern unverzichtbar. Gesellschaften, die entsprechende Konzepte realisieren, bevor Technik und Wirtschaft sie unmittelbar erzwingen, verfügen über einen erheblichen Wettbewerbsvorteil. Wer allerdings an antiken Denkmodellen und Strategien festhält, wird über kurz oder lang im wahrsten Sinne des Wortes den Anschluß verlieren.


Quellenangaben

  1. Microsoft Encarta 98 Enzyklopädie, Stichwort "Internet"
  2. c't 12/98, S.16
  3. Erik Möller: "Melodien für Millionen", erschienen in: GALAXIS, Erstausgabe 1998. Im Internet: http://www.humanist.de/erik/Melodien_fuer_Millionen/mpeg3.doc
  4. pers. Erfahrungswerte
  5. c't 6/99, S. 192
  6. Erik Möller: "Wettrüsten um das Urheberrecht", erschienen in: Taz, 28.1.1999, Internet: http://www.humanist.de/erik/taz/wu.html
  7. Günter Ropohl: Methoden der Technikbewertung. In: v. Westphalen (Hg.): Technikfolgenabschätzung. München 1997.
  8. Telepolis, 23.6.1999 (http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/on/2973/1.html)
  9. z.B. http://xxx.uni-augsburg.de/
  10. Erik Möller: "Klick mich an, und ich weiß, wer du bist", erschienen in: Taz, 3. September 1998, ders.: "Von Bugs und Patches", in: Taz, 1. Oktober 1998, ders.: "Schau mir in die Daten, Kleines" in: Galaxis, Erstausgabe 1998. Alle Artikel sind im Internet unter http://www.humanist.de/erik einsehbar.
  11. z.B. James W. Prescott: "Body Pleasure And The Origins Of Violence", erschienen in: The Futurist, April 1975. (Internet: http://www.violence.de)