Bündnis90/Die Grünen:
Grundsatzdebatte zu "Trennung von Staat und Kirche"
Lange Jahre forderten die Grünen die strikte Trennung von Staat und Kirche, das Ende
des Kirchensteuer-Einzugs durch die Finanzämter, das Ende des verfassungsrechtlich
garantierten Religionsunterrichts. Der klare Trennungskurs im Bundestags-Wahlprogramm
1994, zurückgehend auf den Pfarrer Wolfgang Ullmann (DDR-Bürgerrechtler), wurde 1998
deutlich verwässert und im neuen Grundsatzprogramm sollte gar nichts mehr zum Thema
stehen.
Aber selbst diese Nichterwähnung soll nun einer freundlichen Hinwendung zu den Kirchen -
vor allem zu den christlichen Großkirchen - weichen. Die Vorsitzende der Grünen, Claudia
Roth, hat es, so berichtete die Süddeutsche Zeitung am 15.02.02, bei einem
gemütlichen Beisammensein mit Kardinal Lehmann versprochen, auch wenn sie an der
"prinzipiellen Trennung von Staat und Kirche" nicht rütteln will. Und die
kirchenpolitische Sprecherin der Grünen, Christa Nickels, soll bereits einen Antrag für
das Grundsatzprogramm formuliert haben, in dem sie die Kirchen "in ihrem Einsatz für
die universalen Menschenrechte" zu "unverzichtbaren und verlässlichen
Mitstreitern" der Grünen erhebt.
Auf ihrer Homepage berichtet
Christa Nickel, die auch dem Bundesvorstand von Donum Vitae und dem Zentralkomitee der
Katholiken angehört, wie gut die Zusammenarbeit zwischen grüner Bundestagsfraktion und
den Kirchen mittlerweile funktioniert:
"Die Brücke trägt auch insofern, als es inzwischen möglich geworden ist, im
Vorfeld politischer Entscheidungen vertrauensvolle Gespräche zu führen und so dafür zu
sorgen, dass die Anliegen der christlichen Glaubensgemeinschaften christlichen auch in der
neuen 'Berliner Republik' Gehör finden. In einer Reihe solcher Gespräche zwischen
Vertretern der bündnisgrünen Fraktion und der Kirchen ist es gelungen, einen Kompromiss
zu finden, der die zu erwartenden Verluste der Kirchen durch die Steuerreform wesentlich
abmildern und auf diese Weise verhindern wird, dass die Kirchen ihre subsidiären Aufgaben
im sozialen Bereich einschränken müssen."
Da hat die Desinformationspolitik der Kirchen mal wieder Erfolg gehabt. Auch
in einem Chat zum Thema versuchte man kürzlich weiszumachen, mindestens 20 % der
Kirchensteuer ginge in den sozialen Bereich. Nachdem geforderten Belege ausblieben,
bestätigte der Kirchenmann schließlich: "Die Kirchensteuer dient aber nicht vor
allem dem Sozialen; sie dient der kirchlichen Aufgabe, der Wortverkündigung."
Die Argumentation der Kirchenvertreter, die allerdings nur unter Pseudonymen teilnahmen,
stand allgemein auf schwachen Beinen. [Mitschnitt des Chats mit Kommentaren und Querverweisen]
Wesentlich konsequenter für die Trennung von Staat und Weltanschauung einsetzen will sich
der offensichtlich gut informierte Kreisverband
der Grünen in Hagen und stellt wohlbegründete, konkrete Forderungen auf. Am
26.02.2002 beschloss der Kreisverband entsprechende Anträge für die
Grundsatzprogrammdebatte der Bundesdelegiertenkonferenz, die vom 15.-17.03.2002 in Berlin
tagen wird.
Anträge des KV Hagen (Bündnis90/Grüne) zum Grundsatzprogramm im Wortlaut:
Gegenstand: Ergänzung eines urgrünen bürgerrechtlichen Zieles
ANTRAG 1
Ergänzung:
S. 62, Zeile 9-12: Unsere Ziele sind gesellschaftlicher Pluralismus, die Ausgestaltung der
multikulturellen Demokratie, Trennung von Staat und Kirche, die Stärkung des
Rechtsstaatsliberalismus, ... .
Begründung:
Die Trennung von Staat und Kirche ist seit der Aufklärung ein Ziel bürgerrechtlicher
Politik. Was 1848 noch scheiterte, wurde 1919 - aber nur in Teilen - verwirklicht. Seitdem
wuchert in Konkordaten/Staatskirchenverträgen ein weltweit einzigartiges
staatskirchenrechtliches Privilegiensystem. Dieses benachteiligt nicht nur andere
weltanschauliche Gruppierungen - und verstößt damit gegen den Grundsatz der
Gerechtigkeit -, es verletzt auch die Selbstbestimmung von Menschen, so z.B. dort, wo
Ereignisse des Privatlebens (Wiederverheiratung Geschiedener) von öffentlich
finanzierten Beschäftigten aufgrund der "Trägerschaft" der Kirche und deren
Moralverständnis zum rechtlich unanfechtbaren betrieblichem Kündigungsgrund werden.
ANTRAG 2:
Seite 66 nach Zeile 215 einfügen:
Trennung von Staat und Kirche
Bündnis 90 / Die Grünen treten für die Religions- und Weltanschauungsfreiheit ein, also
das Recht, sich öffentlich zu einer Religion oder Weltanschauung zu bekennen oder nicht
zu bekennen. Solange es an öffentlichen Schulen keine gegenteiligen allgemeinen
Kleiderordnungen gibt, sind Kopftücher wie Halskreuze gleichermaßen zulässig.
Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften können in der Öffentlichkeit mit
Kirchenglockengeläut oder Muezzinruf gleichberechtigt ihre Anhänger zu Versammlungen
rufen, sofern der Immissionsschutz beachtet wird. Der weltanschaulich neutrale Staat darf
jedoch nicht seinen Bürgerinnen und Bürgern mittels Wandkruzifixen in Gerichtssälen
oder öffentlichen Klassenzimmern als christlicher Staat gegenüber treten. Dort, wo
Privilegien einzelner Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften bestehen, sind diese
abzuschaffen.
Schlüsselprojekt weltanschauliche Neutralität des Staates
Die Aufgabe des Staates ist der Schutz der Religions- und Weltanschauungsfreiheit, nicht
jedoch die Fortsetzung kostspieliger vordemokratischer Privilegien und weltanschaulicher
Diskriminierungen für Anders- oder Nichtgläubige. Wir wollen bis 2020 durchsetzen:
Begründung:
Kirchen sind dort Bündnispartner von Bündnis 90 / Die Grünen, wo es Übereinstimmung
oder gemeinsame Interessen gibt - so z.B. in der Flüchtlingspolitik. Sie sind keine
Bündnispartner, wenn es um kirchliche Privilegien geht. Eine Politik, die nicht
opportunistisch ist, wird diese Spannung auch benennen. Die Vorstellung, das bestehende
System "habe sich bewährt" ignoriert dessen zahlreiche
Grundrechtsverletzungen. Ein Programm, welches eine Zukunftsvision für fast 20 Jahre
entwirft, muss deutlich über ein Wahlprogramm hinausweisen. Und wenn es sich darin
positiv von dem der anderen etablierten Parteien unterscheiden will, sollte es anderes
tun, als einseitig und naiv das Loblied hierarchischer Institutionen zu singen.
Die Kirchen nehmen pro Jahr 16, 9 Milliarden DM an Kirchensteuern ein. Davon werden im
Durchschnitt nur 10-20 Prozent für soziale Zwecke aufgewendet. Die Summe der staatlichen
Zuwendungen an die Kirchen beträgt jährlich 16,5 Milliarden DM. Der Staat verzichtet
gegenüber den Kirchen weiterhin durch Steuerprivilegien jährlich auf 20,0 Milliarden DM
Einnahmen. All dies sind jedoch nur Peanuts im Verhältnis zu dem Vermögen der Kirchen
welches nach seriösen Schätzungen bei weit über 900 Milliarden liegt, wobei
"Unverkäufliches", wie Kirchen, Dome und Kunstwerke gar nicht eingerechnet
sind. Es gibt also keinen Grund, die Existenz des öffentlich finanzierten sozialen
Sektors gefährdet zu wähnen, falls dieser pluraler gestaltet würde, noch die Existenz
der Kirchen bedroht zu glauben, wenn dieser Mega-Konzern nicht mehr so wie bisher aus
allgemeinen Steuermitteln subventioniert würde.
Dort wo mit öffentlichen Mitteln öffentliche Leistungen erbracht werden, muss auch das
allgemeine Arbeits- und Sozialrecht gelten. Es ist doch eine besondere Schamlosigkeit,
wenn die beiden Großkirchen im Januar 2002 emphatisch zur Beteiligung an
Betriebsratswahlen aufrufen, aber die hoch gepriesene Einrichtung in ihren Häusern nicht
einmal dulden, ein Streikrecht der Beschäftigten verneinen und Gewerkschafter am Betreten
der Betriebsgelände hindern. Im Konfliktfall tritt dem kirchlichen Arbeitnehmer ein
Vertreter des kirchlichen Arbeitgebers im kircheninternen Instanzenweg in der nächsten
Ebene als Richter gegenüber. All dies geschieht im Rahmen der geltenden Gesetze völlig
legal.
Als Einschränkung der Grundrechte ist nicht hinzunehmen, dass der Arbeitsplatz einer
Krankenschwester in einem Krankenhaus in katholischer Trägerschaft zu 100 Prozent
öffentlich finanziert ist, die Kirche aber Ereignisse des Privatlebens, wie z.B. die
Wiederverheiratung als Geschiedene, zur Arbeitsvertragsverletzung erklären und mit dieser
Begründung eine rechtlich unanfechtbare Kündigung aussprechen kann. Eine
Kindengartenleiterin heiratet den seit 10 Jahren geschiedenen Vater ihrer unehelichen
Kinder, mit dem sie seit Jahren - geduldet - zusammenlebt. Selbstverständlich steht
es der katholischen Kirche frei, aufgrund der kirchlichen Vorstellung von der
Unauflöslichkeit der Ehe hierin einen zu ahndenden Verstoß zu sehen - aber maximal doch
nur dort, wo sie dies Personal ausschließlich aus eigenen Mitteln finanziert. Der Skandal
liegt auf der Seite des Staates, der eine Definitionsmacht akzeptiert, welche aus dem
Putzauftrag von Raumpflegerinnen noch einen Verkündigungsauftrag ableitet, der als
Tendenz zu schützen wäre.
Konfessionslose haben durch die Dominanz der Kirchen im sozialen Sektor deutlich geringere
Einstellungschancen. Konfessionell gebundene Mitarbeiter von kirchlichen Einrichtungen
können ohne Verlust des Arbeitsplatzes nicht vom Grundrecht der Religions-
Weltanschauungsfreiheit gebrauch nehmen.
Die Trennung von Staat und Kirche ist ein uraltes und immer noch aktuelles
bürgerrechtliches Anliegen. Sie ist grundrechtlich geboten und längst überfällig. Sie
hat auch nichts mit Kirchenkritik oder gar Kirchenfeindschaft zu tun. Im Gegenteil,
Trennung von Staat und Kirche bedeutet auch, sich nicht länger von Parlamentssitzen aus
in innere Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften einzumischen. Wer als Katholikin das
Frauenpriestertum wünscht, mag sich dafür in den Laiengremien der katholischen Kirche
und auf der Straße als Bürgerin engagieren. Als Vertreterin der Legislative oder gar der
Exekutive hat sie von dem Platz aus die Selbstbestimmung der katholischen Kirche über
ihre inneren Angelegenheiten zu respektieren. Wer als Lesbe oder Schwuler meint, der
Segnung einer homosexuellen Lebenspartnerschaft durch eine Kirche zu bedürfen, der darf
nicht von der Politik verlangen, ihm dies zu ermöglichen. Der Staat hat hingegen die
Pflicht, im Rahmen seiner Gesetzgebung bestehende Diskriminierung in staatlichen
Regelungen abzubauen und muss sich dabei der Übergriff von Kirchen erwehren, die deren
Wertesystem allgemeinverbindlich überstülpen wollen.
Wir brauchen eine klare Haltung, die kirchliches oder islamisches Recht nicht neben oder
gar über dem staatlichen Gesetz als Rechtsnormen anerkennt. Die allgemeinen Gesetze
müssen für alle Bürgerinnen und Organisationen gleichermaßen gelten. Innerhalb dessen
bietet das Vereinsrecht ausreichend Möglichkeiten. So ist es in den meisten
demokratischen Länden, wie z.B. in Frankreich oder den USA seit über 200 Jahren Standard
- und die Welt und die Kirchen sind offenbar daran doch noch nicht untergegangen. Spanien
und Italien haben sich von den Konkordaten aus ihren faschistischen Diktaturen getrennt.
Warum war das in Deutschland bisher nicht möglich?
März 2002, Der
Humanist
erstellt von Heike Jackler