Contra NATO
Gedanken zum Kosovo-Krieg von Herbert Ferstl
Nein, ich stehe nicht hinter unseren Soldaten, und im Fall einer möglichen Einberufung behalte ich mir das Recht der Desertion vor. Friedliche Politik besteht primär oftmals aus Kompromissfindungen. Die Fähigkeit zu Kompromissen wird jedoch immer dann in Frage gestellt, wenn es um das Leben von Menschen geht. Die Rechte, Gebote, Gesetze des bestehenden Völkerrechts, der Menschlichkeit, des Grundgesetzes (Art. 26 [1]) und bei Gläubigen die der Religion, verbieten einen derartig geführten Angriffskrieg, der zudem aus technischen Gründen (Reichweite der Kampfjäger) nur zufälligerweise geographisch nicht direkt von der BRD aus geführt wird. Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht. Dies gilt nicht nur für Milosevic und Jugoslawien. Apropos Widerstand. Dazu folgenden Joke: Der Lehrer fragt: Welcher Name schiesst uns sofort durch den Kopf, wenn wir an den Deutschen Widerstand denken? Fritzchen antwortet: Ohm! Und, um ein Wort eines kritischen Historikers zu gebrauchen: "Beim Wort Revolution erstarrt Deutschland, bei der Mobilmachung wird es lebendig" (Dr. K. Deschner).
Mit der NATO-Begründung zur Verantwortung für die Menschen in Konfliktherden auf dieser Welt, wird eine neue Dimension der "Volksverdummung" und eine neue Akzeptanz für zukünftige globale Kampfeinsätze der Bundeswehr geschaffen. Welche vermeintlichen Krisenzentren dieser Welt sollte man nach der NATO-Logik vorsorglich mit "sauberen", humanitären Bombardements belegen? Wo beginnen "wir"? Bei den Kurden oder den Tamilen, in Ost-Timor oder in Ruanda, im Baskenland etwa oder in Mexiko (die Zapatisten Chiapas), in Nordirland, im Kongo, in Korea, in Tschetschenien, in Kaschmir, in Tibet (von China besetzt), in Liberia (Freetown), Birma, Kuba, Lybien, Algerien, Afghanistan, etc.?
Welche Industrienationen liefer(te)n in diese Länder und deren Statthalter (Pinochet, Marcos, Schah, "Baby Doc", Milosevic, Idi Amin, Franco, Suharto, Mao, Taliban-Milizen, etc.) westliche Waffensysteme und Anti-Personenminen? Aber ja doch, bei dieser Argumentation zählen plötzlich deutsche Arbeitsplätze wesentlich mehr, als die durch diese Waffenlieferungen potentiell verursachten Toten, welche man ja nun mit den Begründungen "Tote sparen" und "Humanitäre Hilfe" durch den erfolgten Angriffskrieg reduzieren möchte.
Vielleicht wird aber auch "Humanitäre Hilfe" davon abhängig gemacht, wer davon profitieren könnte; oder gar von der geographischen Lage? Wird Humanität am Ende in Abstandskilometer zu Europa gemessen?
Man darf nicht 200, 1.000 Tote mit theoretisch angenommenen 50.000, 100.000 Toten aufrechnen, da man bereits um das erste verlorene Menschenleben eines ausgetragenen Konfliktes zutiefst erschüttert sein sollte. Mit dieser "viele Tote vermeiden"- Argumentation hätte man Hitlers Deutschland bereits 1938 mit einem Flächenbombardement an den Verhandlungstisch bomben können (lieber 2 Millionen Tote, als, wie sich später zeigte, ca. 60 Millionen Tote). Auch Hitlerdeutschland wäre u.U. ohne Weltkrieg zu stoppen gewesen. Die Ursachen waren vielfältig (nur zwei Stichpunkte: Versailler, Weimarer Republik).
Aktuelle politische Informationen zugrunde gelegt, wurden bei den Verhandlungen in Rambouillet nicht alle Massnahmen ergriffen, eine Lösung auf dem Verhandlungswege herbeizuführen. Doch nicht zuletzt das Versagen der Politik führte die Nato in die selbst geschaffene ultimative Situation, deren Gesichtswahrung nur durch das kollektive, aggressive Handeln der im Militärpakt zusammengeschlossenen Staaten möglich war. Andere Möglichkeiten hätte es bereits vorher gegeben. Entgegen den sich bereits damals abzeichnenden "Gewitterwolken" hat man z.B. im Friedensabkommen von Dayton das Kosovo explizit ausgeschlossen. Die jugoslawische Opposition wurde bei ihren Demonstrationen nach den Wahlen im Herbst 1996 vom Westen weder ideologisch noch finanziell unterstützt. Die vom Westen am 21.11.1995 ausgesetzten Sanktionen gegen Jugoslawien hatten verheerende Folgen gezeitigt. Die industrielle Produktion brach weitgehend zusammen; die Arbeitslosenquote lag 1996 faktisch bei 50 %, die Inflationsrate betrug etwa 100 %. Die soziale Situation war durch die Aufnahme von etwa 750.000 Flüchtlingen aus den Kriegsgebieten dramatisch verschärft worden (beim jetzigen Konflikt sind den betroffenen Anrainerstaaten laut NATO nicht einmal ein Drittel dieser Flüchtlingszahl zuzumuten). An Finanzhilfen des IWF war nicht zu denken, solange die Regelung der Auslandsschulden des ehemaligen Gesamt-Jugoslawien ungeklärt blieb. Alleine aus der (kroat.) Krajina wurden damals nahezu 300.000 Menschen (nach Serbien) deportiert (um die Wortwahl Joschka Fischers zu übernehmen). Wo waren hier die Stimmen des Westens zur sogenannten humanitären Hilfe?
Betrachtet man jedoch Teile der historischen Entwicklung im Kosovo (ehemals Kerngebiet des serbischen Reiches), erfährt man, dass durch natürliche Bevölkerungszunahme die Zahl der albanischen Bevölkerung von 498.300 (anno 1948) auf 1,71 Millionen (1991) stieg. Dies bei einer Fläche von ca. 10.800 qkm, und somit etwa nur 25 % grösser als "mein" Regierungsbezirk Mittelfranken. Bei einem derzeitigen Nichtdeutschenanteil in der Nürnberger Bevölkerung in Höhe von etwa einem Drittel und einer theoretischen Zunahme dieser Quote auf etwa 90 % in den nächsten 30 Jahren (bei weiterhin deutscher Regierung) fällt es mir leicht, hier Prognosen zu treffen, die Konflikte prophezeien, welche denen im Kosovo nicht unähnlich sind. Politik ist eben auch oftmals eine Frage des Standpunktes jedoch nie bei Menschenleben.
Wie verheerend die vertraglichen Zusagen in "Automatik"-Militärbündnissen wirken, hat die Geschichte unseres Jahrhunderts gezeigt. Es ist evident, dass auch bei diesem Konflikt die "Automatik" des faktisch sozialdemokratisch geführten NATO-Militärbündnisses greift. Zu Erfüllungsgehilfen der amerikanischen, umweltverachtenden und grosskapitalistisch geprägten Imperialpolitik degradiert, fristen deutsche Politiker ein Kopfnicker-Dasein. Unser Jahrhundert begann blutig 1914 in Serbien und endet makabrerweise in Serbien. Und genau wie das Ultimatum vom 23.07.1914 die serbische Souveränität verletzte, verletzt das NATO-Ultimatum sie auch heute.
Und da sagt man: "Die Geschichte wiederholt sich nicht"; doch und zudem lernt man nichts daraus.
Wie bei jedem Krieg bleibt auch hier die Wahrheit wieder einmal zuerst auf der Strecke. Die Berichterstattung der westlichen Staaten, respektive ihrer - zum Teil willfährigen - Medien über das Flüchtlingselend im derzeitigen Balkankonflikt, scheint nicht nur unausgewogen, sondern darüber hinaus sehr gefährlich zu sein. Das Elend der Kosovo-Flüchtlinge wird einseitig in den Vordergrund gerückt. Für die von operativen Bomben Getroffenen (auch Serben) wird keine (oder nur vereinzelt) Sympathie empfunden. Emotionale Entscheidungen und Vorurteile werden somit jetzt schon "für die Zeit danach" getroffen. Die Berichterstattung der Presse in anderen Nicht-NATO-Staaten (Südafrika, Indien, etc.), ist entschieden kritischer gegen das - von den UN nicht gedeckte - Handeln der NATO.
Bekannt ist aber auch, dass in dieser, unserer Welt seit vielen Jahren täglich etwa 40.000 Kinder und 60.000 Erwachsene an Hunger und Krankheit krepieren ja elendig krepieren, nicht sterben. Wohlgemerkt, TÄGLICH. Kein Vergleich zum Kosovo. Wobei ich wie schon gesagt - ungern Tote gegenseitig aufrechne. Doch wo blieben und bleiben hier die Grossaufnahmen der Printmedien? Wo die täglichen Schlagzeilen der BILD? Wo die allabendliche Diskussion im Fernsehen über Sinn und Zweck? Wo die überdurchschnittliche Spendenbereitschaft und Hilfe des Westens? Wo die Intervention des Westens, respektive der Nato? Wo das einheitliche, publizistische und anherrschende Geschrei der deutschen Parteien und deren Vertreter? Widerlich und fadenscheinig ist somit in diesem Konflikt die Argumentation fast aller bundesdeutschen Politiker.
Ökologische Standpunkte? Ach wo lediglich über 25.000 Tonnen Kerosin, die die NATO-Kriegsbomber über dem Balkan täglich verbrennen. Von den langfristig entstehenden Umweltschäden durch die fallenden Bomben und Cruisemissiles in Jugoslawien ganz zu schweigen. Wer berichtet zudem von den Kindern in Slowenien, Bosnien und anderen Anrainerstaaten, die seit Kriegsbeginn bereits in den frühen Morgenstunden aus dem Schlaf gerissen werden, da NATO-Glücksbomber im Anti-Radar-Tiefflug bis zum späten Abend über ihre Hausdächer "knallen"? (Bekannte von dort berichten dies zumindest.)
DM 10 Milliarden an bisherigen NATO-Kriegskosten (lacht da nicht das Herz eines jeden Waffenproduzenten?). Geschätzte DM 20 Milliarden für den Wiederaufbau alleine im Kosovo. DM 100 Milliarden Zerstörung in Serbien. Hätte man diese Summen nicht bereits vor dem NATO-Angriff als monetäre Hilfe den Kosovo-Albanern zukommen lassen können?
Man vergisst aber anscheinend auch, dass die Massenflucht im Kosovo erst nach den Bombardements der NATO eingesetzt hat. Unsere Politiker versuchen zwar die Kritiker dieser Opinion vom Gegenteil zu überzeugen, stossen dabei aber auf folgende Ungereimtheit. Sollte die NATO tatsächlich bereits - wie behauptet - vor dem Beginn ihrer Aggression über die Vorbereitung der Vertreibungen gewusst haben, ist ihre Handlungsweise doppelt verwerflich. Nato-Strategen hätte dann klar erkennen müssen, dass Milosevic die "Gunst der Stunde" nutzen wird, um unbehelligt im Kosovo zu agieren. Überdies sollte aus den Erfahrungen mit Saddam Hussain auch für Militärs erkennbar gewesen sein, dass mit solchen Aktionen, respektive Krieg niemanden gedient ist schon gleich niemals uns, dem Volk.
Herbert Ferstl, 18.04.1999