Der § 166 – Geschichten aus der Schattenwelt
von
Christian Barduhn

 

Es gab einmal eine, nicht allzu ferne Zeit, in der wurden unter anderem Religionskritiker durch christliche Erleuchtungsmittel, wie zum Beispiel dem Scheiterhaufen, entsorgt. Nachdem das Zeitalter der Aufklärung die Flammen der Dummheit erstickt hatte, suchten die Kirchen eine neue Möglichkeit, um ihre Kritiker ruhig zu stellen, und auf lange Sicht gesehen, auch ruhig zu halten. Dafür bediente man sich der Gerichtsbarkeit und es entstand der Paragraph 166, der einheitlich in Deutschland seit 1871 besteht.

Die Anwendung dieses Paragraphen richtete sich zunächst gegen bürgerlich-liberale Religionskritiker; später wurden dann hauptsächlich die Kritiker aus dem sozialistischen Lager damit verfolgt und abgeurteilt. In den 20er Jahren unseres Jahrhunderts bekämpften die Kirchen rigoros die antichristlichen Werke von Künstlern, Schriftstellern und Intellektuellen. Kurt Tucholsky, Kurt Weill und Oskar Panizza waren einige der prominentesten Opfer, die – wer kann es ihnen verdenken – diese Anfeindungen als Auszeichnung betrachteten. Das von den Oberhirten angepeilte Ziel, nämlich die Trockenlegung des künstlerischen Potentials, die finanzielle Schädigung und das Wegsperren in Gefängnissen, ist – wie alle Fronteinsätze der Kirchen gegen ihre Kritiker – wohl kaum mit dem Gebot der christlichen Nächstenliebe vereinbar.

Ursprünglich, seit seiner Einsetzung im letzten Jahrhundert, ein reiner „Gotteslästerungsparagraph“, verwandelte sich der 166er im Laufe der Zeit immer stärker zu einem Instrument, mit dem die göttlichen Handlanger sich selbst und ihre Einrichtungen zu schützen wußten. Der Paragraph wurde zwar im Zuge der Strafgesetzreform 1969 abgeschafft. Aber unter der Schirmherrschaft der Großen Koalition verständigte man sich auf den Kompromiß des jetzigen § 166. Nun lag die vorrangige Gewichtung auf der Bekenntnisbeschimpfung, so daß seitdem weinger Gott als die großen Kirchen gegen Kritik geschützt sind. Im Wortlaut heißt es:

„I. Wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften den Inhalt des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses anderer in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

II. Ebenso wird bestraft, wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften eine im Inland bestehende Kirche oder andere Religionsgesellschaft oder Weltanschauungsvereinigung, ihre Einrichtungen oder Gebräuche in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören.“

Nun könnte man denken, daß in unseren halbwegs liberalen Zeiten dieser Paragraph kaum noch zur Anwendung kommt. Doch seitdem der deutsche Einheitskanzler, Helmut Kohl, 1982 mit der sinnentleerten Phrase der „geistig-moralische Wende“ das Volk verblendete, verzeichnen die Gerichte einen stetig anwachsenden Berg von Prozessen gegen Religionskritiker – wenn auch selten mit dem erwünschten bzw. mit dem von den Klägern herbeigebeteten Erfolg. Der Umstand, daß wir hier und heute unsere Sendung unbehelligt produzieren können, verdanken wir nicht der angeblichen Toleranz der Kirchen, sondern allein der Tatsache, daß sich die weltliche Gerichtsbarkeit nicht mehr automatisch dem pfäffischen Diktat beugt.

Ein bezeichnendes Beispiel dafür, und für die Verflechtung von Klerus und kommunaler Politik, ist die Geschichte um den Juso-Vorsitzenden Florian Pronold aus dem bayrischen Städtchen Deggendorf. Gegen Pronold, gerade frisch in den Stadtrat gewählt, startete die örtliche CSU und die katholische Kirche im April '95 eine regelrechte Kampagne. Sein Artikel in einer Schülerzeitung, in dem er sich kritisch mit der politischen Stimmungsmache gegen das Kruzifix-Urteil auseinandersetzte, war der – eigentlich nichtige – Anlaß. Pronold sprach in seinem Artikel von einem „überflüssigen Latten-Gustl“. Mittels mehrerer Anzeigen wegen Verstoßes gegen den § 166, sollte der vermeintliche „Gotteslästerer“ Pronold davon abgehalten werden, sein Mandat anzutreten. Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren nach mehrmonatigen Ermittlungen ein. Die örtliche SPD erklärte daraufhin, daß die Anzeigen, selbst für Laien erkennbar, juristisch haltlos waren. Weiterhin kritisierten die lokalen Sozialdemokraten, daß die CSU, mit Hilfe der Kirche, immer wieder die Justiz bemüht, um ihre politischen Gegner mundtot zu machen.

Das Reibungsfeld Kirche und Kunst ist – man kann es nicht anders sagen – ein einziges Trauerspiel. Seit Jahrhunderten werden die Geschütze wider die „Gotteslästerer“ in Stellung gebracht, wird von den Kanzeln scharf geschossen, werden Künstler samt ihren Werken in die Hölle verdammt. Ob Malerei, Theater, Literatur oder Film – kein Bereich blieb verschont. Nur wenn es darum ging, den kirchlichen Prachtbauten innerstädtische Dominanz zu verleihen – ganz zu schweigen von der prunkvollen Innenausstattung –, waren Handfertigkeiten und künstlerische Ambitionen gefragt, mit nur einem Ziel, den Christengott zu preisen.

Ein Fotograf wollte im Kölner Dom eine Fotoserie zum Thema „Adam und Eva“ schießen. Dazu ließ er zwei Models, in dem des biblischen Motivs entsprechendem Kostüm, im Altarbereich des Domes in paradiesischen Stellungen posieren. Es dauerte keine Minute, bis das Fototeam von Domwächtern zum Verlassen der Kirche aufgefordert wurde, sie aber zugleich, unter Einsatz körperlicher Gewalt, daran hinderten. „Nackte im Dom“, titelte daraufhin die Boulevardpresse, für die diese Aktion ein gefundenes Fressen war. Die katholische Kirche zeigte sich entrüstet, sprach von „Entweihung“ und mobilisierte die Öffentlichkeit, um aus den reißerischen Schlagzeilen Kapital zu schlagen. Obwohl der Fotograf angab, nur ein biblisches Thema neu interpretiert zu haben, wurde gegen ihn Strafanzeige gestellt: mit dem Ergebnis, daß das eindeutigste Bild derzeit nicht veröffentlicht werden darf. Christlichen Fundamentalisten war dieses Urteil offensichtlich etwas zu milde. Wie eine gerechte Bestrafung ihrer Meinung nach auszusehen habe, offenbarten sie, als sie dem Künstler eine Briefbombenattrappe ins Haus schickten. Als eine mögliche Erklärung für die extrem aggressiven Reaktionen führte der Fotograf an, daß er wohl einen Tabubruch begangen habe, denn der Altarbereich sei in der katholischen Kirche für die Frau stets unzugänglich gewesen. Und gerade durch die Präsentation einer nackten Frau im Zentrum der Kirche, werde einer ihrer Grundpfeiler – die Diskriminierung des weiblichen Geschlechts – angegriffen.

Das „Maria -Syndrom“ ist eine wilde Mixtur aus Rockmusik, Theater und comichafter Satire. Ein Rock-Comical, dessen Inhalt sich um eine Nonne dreht, der scheinbar das Wunder der unbefleckten Empfängnis widerfährt. Dem Autor des Stückes, Michael Schmidt-Salomon, geht es um eine allgemeine Kritik an der den religiösen Systemen innewohnenden Inhumanität. Michael Schmidt-Salomon ist im Raum Trier kein unbeschriebenes Blatt. Seit Jahren registriert das zuständige Bistum seine geradezu ketzerischen Agitationen mit wachsendem Unbehagen. Als Mitglied der Kabarettgruppe HEIL & SALOMON erntete er Applaus, als er den absurden Vorhaut-Jesu-Kult der katholischen Kirche lächerlich machte. Später gründete er die T.I.R.A., die „Trierer Initiative für religiöse Abrüstung“. Der jüngste Sturmlauf der Abrüstungsinitiative gegen die Kirchenbastion, brachte das Weihwasser zum Kochen: Kaum daß der Trierer Bischof, Spital, fürs Wallfahrtsjahr 1996 die Ausstellung des heiligen Rocks Christi angekündigt hatte, konterte Schmidt-Salomon mit einer Gegenaktion. Er kündigte auf dem Domvorplatz die „Unterwäschekollektion der Menschheitsgeschichte“ an, verteilte vegetarische Hostien – vegetarisch, weil ohne Heiland – und klärte anhand historischer Beispiele über „religiöse Restrisiken“ auf. All diese Umstände führten jetzt letztendlich dazu, daß das seit 1994 bestehende Aufführungsverbot gegen das „Maria-Syndrom“ erneut bestätigt wurde. In der Urteilsbegründung des Oberverwaltungsgerichtes Rheinland-Pfalz, wird ausdrücklich die „Art und Weise der Aufführung“ kritisiert. Bemerkenswert daran ist, daß weder der Antragsteller des Verbotes – das Bistum Trier – noch die Richter das Stück, aufgrund des Aufführungsverbotes, je gesehen haben. Da eine Revision nicht zugelassen ist, wird man wohl nun den Weg zum Bundesverfassungsgericht beschreiten.

Der Fuldaer Kriegsbischof, Johannes Dyba, ist eine jener Personen des katholischen Kirchenlebens, die – nicht immer, aber immer öfter – bei ihren öffentlichen Auftritten verbrannte Erde hinterlassen: Mal verleiht er ungeniert seinem Haß auf Homosexuelle Ausdruck; mal läßt er viertelstundenlang die Glocken für abgetriebene Kinder läuten, und benutzt in diesem Zusammenhang gern die völlig mißglückte Wortschöpfung vom „Kinder-Holocaust“. Aber von Zeit zu Zeit erweist sich diese Kreatur von seines Gottes Gnaden als gänzlich humorlos. Anfang 1993 war er gerichtlich und zunächst auch erfolgreich gegen eine Fotomontage des Satiremagazins Titanic vorgegangen. Das Bild zeigt einen auf gezeichnete Föten deutenden Dyba, der den Satz sagt: „Klasse! Das sind ja ganz seltene Fötusfotos!“ Doch die nächste Instanz, das Frankfurter Landgericht, hob die Geldstrafe gegen den damaligen Titanic-Chefredakteur wieder auf. Laut dem Gericht müsse das Bild im Zusammenhang mit Dybas „extremen Äußerungen“ zur Frage des Schwangerschaftsabbruches gesehen werden. Auch der Kommentar des ins Foto einmontierten früheren hessischen Ministerpräsidenten Holger Börner, „Und jetzt soll ich Dir wohl auch noch eine Erektion verschreiben, Kinderschänder!“, sei nicht als Schmähkritik zu werten.

Zu Beginn des Jahres 1996 bekam Titanic ein weiteres Mal Probleme mit Kirche und Justiz. Anlaß war die Oktoberausgabe '95, die mehrere Vorschläge enthielt, welche Betätigungsfelder dem Gekreuzigten nach dem Kruzifix-Urteil des Bundesverfassunsgerichtes noch verbleiben. Die bildlich dargestellten Ideen – Jesus als Klorollenhalter, Türstopper oder Flaschenöffner – stießen auf so wenig Gegenliebe, daß der Leiter der Zentralstelle Medien der katholischen Bischofskonferenz, Reinhold Jacobi, prompt Anzeige erstattete. In „unannehmbarer Weise“ sei das Kreuz dargestellt und die Christusverehrung, die im Zentrum des katholischen Glaubens steht, angegriffen. In seinem blindwütigen Glaubenseifer ist Jacobi allerdings ein kleiner, wenn auch schwerwiegender Formfehler unterlaufen. Die Anzeige ging nicht bei der zuständigen Staatsanwaltschaft in Frankfurt ein, sondern in Berlin. In der Titanic-Redaktion entwickelte man daraufhin einen gesunden Galgenhumor und schloß Wetten ab, ob es Jacobi im zweiten Anlauf gelingt, seine Anzeige formgerecht zu erstatten. Jacobi bewies Lernfähigkeit, das Verfahren wurde jedoch niedergeschlagen.

Ins Gefängnis mußte wegen eines Verstoßes gegen den Paragraphen 166 seit Jahrzehnten niemand mehr. Und bei den Geldstrafen sind die meisten Beteiligten mehr oder weniger glimpflich davongekommen. Bei den politischen Parteien ist der „Gotteslästerungsparagraph“ nicht unumstritten – wenn auch aus unterschiedlicher Motivation heraus. Alois Glück, der CSU-Fraktionsvorsitzende, unterstellt dem 166er eine „Gummiformulierung“ und fordert unverhohlen eine Verschärfung. Aus der Fraktion von Bündnis90/Die Grünen kommt dagegen des öfteren der Ruf nach der Abschaffung dieses Paragraphen, der einen wirklichen Anachronismus im Strafgesetzbuch darstellt. Leider – das muß man dazu auch sagen – wird dieser Themenkomplex zu Wahlkampfzeiten von der Partei komplett ausgeblendet. Auf die christlichen Wählerstimmen wollen die Bündnis-Grünen dann wohl doch nicht verzichten.

Währenddessen lassen die Kirchen nichts unversucht, um ihre Kritiker mundtot zu machen. Unablässig schlagen sie Profit aus der politischen und gesellschaftlichen Rückwärtsbewegung der Kohl-Ära. Erst im September 1995 wurde von der Evangelischen Kirche Deutschland eine „Arbeitsgruppe Medienbeobachtung“ eingesetzt. Sie soll verhindern, daß mit „tiefen Glaubensdingen“ Spott getrieben wird. „Flexibel und prompt“ soll nun auf Satire und Werbung reagiert werden. Die Bandbreite der Strafmaßnahmen ist weit: Sie reicht vom „vertrauensvollen Gespräch“ mit den Redakteuren über eine Beschwerde beim Presse- und Werberat bis hin zur Strafanzeige. Ein Beispiel aus diesem Jahr ist die Sendung „Spott und Hohn für Gott und Sohn“, die am 26. Januar 1997 in der ARD ausgestrahlt werden sollte. Die Reportage geht der Frage nach, wie weit Komik auf Kosten des Glaubens gehen darf. Die Sendung wurde kurzerhand abgesetzt und erst am 11. April 1997, in einer entschärften Fassung, den Zuschauern gezeigt. Wenn jetzt schon Sendungen über Zensur der Zensur zum Opfer fallen, dann sind wir George Orwells Anti-Utopie, die er in seinem Roman 1984 entwickelte, näher, als uns lieb sein könnte.