Innere Mission und Euthanasie
im Oberen Riedhof
Vortrag von Dr. Walter Wuttke
18. Oktober 1999, 20 Uhr
Volkshochschule, EinsteinHaus, Kornhausplatz 5
Veranstalter: Freidenkerinnen & Freidenker Ulm/Neu-Ulm e.V.
Für Vaterland und Kirche
Die evangelischen Wohlfahrtsverbände Diakonie und Innere Mission haben eine recht widersprüchliche Geschichte.
Die Entstehung von Diakonie und Innerer Mission fällt in das Revolutionsjahr 1848, als in der Frankfurter Paulskirche das erste deutsche Parlament zusammentrat und Marx und Engels das Kommunistische Manifest veröffentlichten. Damals begannen auch die protestantischen Kirchen, sich mit dem wachsenden Elend des entstehenden Proletariats zu beschäftigten. Einer der Initiatoren war der Hamburger Theologe Johann Hinrich Wichern, der in seiner Heimatstadt das Rauhe Haus leitete - ein Rettungshaus für gefährdete Jugendliche, die dort unter weitgehendem Verzicht auf Zwang erzogen wurden.
Wichern hielt Ende September 1848 auf einem Kirchentag in der
Wittenberger Schloßkirche seine berühmte Stegreif-Rede, in der er auf die
wachsende materielle Not der Arbeiter und Handwerker hinwies. Dem Theologen ging es bei
seinen Appellen an das christliche Gewissen allerdings nicht nur um die verzweifelte Lage
der armen Leute, sondern auch um den Erhalt des Bestehenden . Es gilt die Rettung
der bürgerlichen Welt, um derentwillen wir treu zu unserem Vaterland halten,
beschwor er seine Mitstreiter. Und fügte hinzu: Vaterland und Kirche - sie können
in diesen Strömen untergehen, aber nur, um herrlicher wieder aufzustehen.
Angesichts solcher Zielsetzung stieß die von Wichern mitbegründete Innere Mission bei
der Obrigkeit auf großes Wohlwollen - die neue Organisation wurde als Helfer im Kampf
gegen revolutionäre und aufsässige Kreise begrüßt.
Im Laufe der Jahre verfestigte sich das Bündnis zwischen dem preußisch-protestantisch
geprägten Staat und den protestantischen Hilfsorganisationen immer weiter. Kein Wunder,
daß die in ihrer Mehrheit deutschnational orientierten Geistlichen des Verbandes nach dem
Ende des ersten Weltkriegs der neu entstandenen Weimarer Republik mit großer Distanz
gegenüberstanden, schließlich hatten sie bisher in den Liberalen und vor allem in den
Sozialdemokraten ihre politischen Gegner gesehen. Doch man arrangierte sich: Die Innere
Mission war inzwischen zu einer der führenden Organisationen der freien Wohlfahrtspflege
geworden, die auf Gedeih und Verderb auf die Kooperation mit dem Staat angewiesen war.
Auch mit den Nazis lief die Zusammenarbeit zunächst problemlos. In einigen Einrichtungen
der Inneren Mission entstanden SA-Trupps und Jungvolkzüge. Und das Stephansstift in
Hannover schickte kurz nach der Machtübernahme vier Diakone als SA-Wachmänner in die
Konzentrationslager der Nazis im Emsland. Viele führende Mitarbeiter der Inneren Mission
standen der Nazi-Ideologie schon lange nahe. Nach einem Dokument lud der Central Ausschuß
der Inneren Mission schon im Jahre 1931 zu einem Eugenik-Kongress in der Heil- und
Pflegeanstalt im hessischen Treysa ein, bei dem man Das Problem des Ansteigens bzw.
der starken Vermehrung des minderwertigen Bevölkerungsanteils gegenüber dem
gesunden erörtern wollte. Auch von übertriebenen Schutzmaßnahmen für
Asoziale und Minderwertige war in nahezu pefekten NS-Jargon die Rede.
Nach der Machtübernahme der Nazis beteiligten sich viele evangelische Heime und Krankenhäuser denn auch ohne erkennbaren Widerstand an der Sterilisierung sogenannter Erbkranker. Allein in einem Betheler Krankenhaus wurden 289 Frauen und 803 Männer sterilisiert. Gehorche der Obrigkeit. Gehorche ihr, auch wenn es Dir schwer wird, ist in einem Inforamtionsblatt evangelischer Seelsorger zu lesen, das damals in den Heimen der Inneren Mission an taubstumme Insassen verteilt wurde. Denn: Würdest Du nicht traurig sein, wenn Du sehen müßtest, daß Deine Kinder und Enkelkinder auch wieder taub sind? Während die Innere Mission die Unfruchtbarmachung erblich Schwerbelasteter begrüßte, verweigerte sie den Nazis bei der Ermordung Geisteskranker und Behinderter allerdings die Gefolgschaft.
Die Nazis ließen sich von der Weigerung der Inneren Mission indes
nicht aufhalten: Bis zum Kriegsende wurden insgesamt 70273 kranke Menschen ermordet, von
denen viele aus Heimen und Krankenhäusern des krichlichen Wohlfahrtsverbandes stammten.
Mehr noch: Ende 1940 verließen die Verantwortlichen der Inneren Missione ihre bis dahin
konsequent durchgehaltene Position einer kompromißlosen Ablehnung der Euthanasie und
erklärten sich dazu bereit, eine Minderheit von Schwerstkranken zu opfern, um so die
Mehrheit der Patienten zu retten.
Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs entstanden zwei deutsche Staaten und zwei
evangelische Wohlfahrtsorganisationen. Im Osten grenzte die SED-Führung den Einfluß der
kirchlichen Helfer immer mehr ein - sie sollten nach dem Willen der Machthaber eigentlich
nur noch für die Pflege der vom Staat abgeschriebenen chronisch Kranken und
Schwerstbehinderten zuständig sein. Im Westen versuchte man, an die Tradition der
Weimarer Republik anzuknüpfen. Dort gründete der spätere Bundestagspräsident Eugen
Gerstenmaier im Herbst 1945 das Evangelische Hilfswerk, das sich vor allem um die
Flüchtlinge aus dem Osten kümmerte.
Auch die Innere Mission meldete sich nach Kriegsende wieder zur Stelle. 'Lastenausgleich?, fragt ein Plakat aus dem Jahre 1948. Und antwortet: 'Einer trage des andern Last! Ende der fünfziger Jahre schlossen sich die beiden Organisationen im Westen der Republik zusammen; nach der Auflösung der DDR vereinigte man sich auch mit den Bruderorganisationen in den neuen Bundesländern. Entstanden ist eine der größten und erfolgreichsten Hilfsorganisationen, die sich nach ihrem eigen en Bekenntnis dem 'Geist des Evangeliums verpflichtet fühlt und deren Geschichte immer noch eine "hochpolitische Sache ist.
[Zit. aus: Badische Zeitung, 30.09.98]
Copyright © Oktober 1999 Der Humanist
erstellt von Heike
Jackler