Die Reportage [Inhalt]
Der Humanist berichtet über Veranstaltungen und Aktionen
MIT DER ABRÜSTUNG ERNST MACHEN
Beitrag von Lühr Henken vom Hamburger Forum beim 6. Friedenspolitischen Ratschlag am 4./5.12.99 in Kassel:
"Was folgt nach dem Jahrhundert der Kriege? - Alternativen der Friedensbewegung"
Die NATO hat mit ihrem völkerrechtswidrigen Krieg gegen Jugoslawien etwas völlig Neues
in der Menschheitsgeschichte bewiesen: dass sie über eine einzigartige Technologie
verfügt, die es ihr gestattet, ein Land zu besiegen ohne je einen Fußbreit dieses Landes
betreten zu haben und ohne einen Einzigen ihrer Soldaten zu verlieren.
Modell Jugoslawien-Krieg
Die Zerstörung der Schlüsselindustrien Jugoslawiens ist so nachhaltig, dass
UN-Generalsekretär Annan im Oktober zu humanitärer Hilfe für Serbien und Montenegro
aufgerufen hat. Im Winter könnten lediglich 30 bis 50 Prozent der Bevölkerung mit
elektrischer Energie versorgt werden. Das Bruttosozialprodukt Jugoslawiens liegt nun
pro Kopf zwischen dem von Eritrea und Sri Lanka bei rund 800 Dollar im Jahr. Die
Arbeitslosigkeit verdoppelte sich gleichzeitig auf rd. 60 Prozent. 1,5 Mio. Menschen
leiden an Hunger.
Die NATO rüstet um, um sich künftig vor allem auf solch einen
Kriegstyp zu spezialisieren. Diese Form der Kriegsführung gilt der NATO als vorbildlich.
Die "selbstkritische" NATO-interne Auswertung des Jugoslawien-Krieges brachte
jedoch "Schönheitsfehler" zum Vorschein, die es künftig zu vermeiden gelte.
Bis zum Sieg dauere es zu lange, was Maßnahmen des Gegners ermögliche, so
NATO-Strategen. Die lange Dauer und die jugoslawischen Gegenmaßnahmen hätten Zweifel am
Endsieg genährt und so den Zusammenhalt der NATO gefährdet. Deshalb schlagen sie
folgende Konsequenzen vor:
Künftig sollen die Luftangriffe schockartig ausgeführt werden. Also nicht mit 20 Angriffen beginnen, sondern gleich mit 1.000.
Die Option des Bodentruppeneinsatzes soll künftig nicht ausgeschlossen werden.
Die Präzision der Zerstörung von Panzern müsse erhöht werden.
Die europäischen NATO-Staaten sollen ihren Anteil an künftigen Kriegen erhöhen. Stichwort Technologielücke schließen. Gefordert wird die Aufrüstung der europäischen NATO-Staaten mit Aufklärungssatelliten, Lufttransportkapazitäten, Abstands- und Präzisionswaffen.
Militärmacht Europa
Die USA wünschen bei der Militarisierung Europas eine deutsche
Führungsrolle, und damit einhergehend einen Anstieg der deutschen Rüstungsausgaben.
US-Minister Cohen reicht Minister Scharpings Entscheidung, die Krisenreaktionskräfte des
Heeres um ein Drittel zu erhöhen nicht. Er regte auf der Kommandeurtagung diese Woche an,
die deutschen Schnellen Eingreiftruppen insgesamt zu verdoppeln oder zu verdreifachen.
Die EU-Regierungschefs sind sich einig: In zwei Jahren soll eine europäische Schnelle
Eingreiftruppe von 50 .000 Mann einsetzbar sein, was ein europäisches Korps von 200.000
Soldaten voraussetzt, weil die Kampftruppen bekanntlich ausgewechselt werden müssen.
Am Ende dieser Militarisierung soll eine europäische Armee stehen, die autonom, d.h. ohne
US-Veto agieren kann.
Deutschland: militärische Führungsmacht Europas
Auf allen Ebenen sind in Deutschland seit Jahren Planungen zur
Umstrukturierung der Bundeswehr im Gange. Neue deutsche
Waffentechnologien werden im Verborgenen entwickelt. All das soll nun in die Tat umgesetzt
werden. Deshalb sprechen Scharping und Schröder von einer Neuausrichtung der Bundeswehr,
die sie in ihrer Bedeutung mit der Wiederbewaffnung Deutschlands vergleichen.
Die Umsetzung dieser langfristig und umfassend angelegten Militarisierung ist seit dem
Bundeswehrplan 97 zahlenmäßig in etwa
erfassbar. Für die Herstellung neuer Waffen soll uns Bürgerinnen und Bürgern insgesamt
rd. 225 Mrd. DM und für die Nutzung zusätzlich rd. 320 Mrd. DM aus den Taschen gezogen
werden.
Die Summen allein reichen schon, um zu fordern: Schluss damit!
Ein Blick auf die brisantesten Waffensysteme macht jedoch zudem den aggressiven Charakter
der Militarisierung der deutschen Außenpolitik deutlich. Die folgende Auflistung erhebt
keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Das Deutsche Heer
Im Heer wird daran gearbeitet, eine sogenannte
"Deep-Battle-Kapazität" herauszubilden, d.h. tief im und über vom Gegner
besetzten Gebiet zu wirken. Zentrales Waffensystem hierfür sind die neuen
Kampfhubschrauber TIGER, von denen zunächst 80 beim größten Hubschrauberhersteller der
Welt, Eurocopter in Ottobrunn und Donauwörth, bestellt sind. 7 Mrd. DM sollen die
Steuerzahler für diese "fliegenden Festungen" ausschließlich zur Aufrüstung
der sogenannten "Krisenreaktionskräfte" aufbringen. Ein TIGER ist 23 mal so
teuer wie einer seiner Vorgänger. Ebenfalls für die "Krisenreaktionskräfte"
sind zunächst 185 Panzerhaubitzen 2000 für 2,5 Mrd. DM im Bau. Übrigens hier in Kassel.
Die wichtigste Waffe der deutschen Artillerie, die 154 Mehrfachraketenwerfer MARS, sollen
eine Verdoppelung der Reichweite auf 70 km erhalten. STN-Atlas Elektronik in Bremen
arbeitet an der Entwicklung neuartiger Kampfdrohnen TAIFUN. Das sind Marschflugkörper mit
einer Reichweite bis zu 170 km. Die Planung sieht eine Einführung von 108 dieser
neuartigen Präzisionswaffen ab 2004 vor. Die Kampfdrohnen sollen in Schwärmen abgefeuert
werden. Ihr RADAR-Suchkopf soll autonom LKWs von Panzern und Gefechtsständen
unterscheiden können, um sie im Sturzflug zerstören zu können. Ebenso wird die
Erprobung eines noch präziseren, direkt manuell lenkbaren, Flugkörpers bei der
DASA-Tochter LFK in Ulm betrieben. Diese POLYPHEM getauften Flugkörper mit Video-Suchkopf
sollen fähig sein, eine 25 kg-Bombe in bis zu 60 km Entfernung noch durch ein Fenster zu
befördern. DASA meldet, dass die Entwicklung dieses in der Welt einzigartigen
Mordinstruments bis 2006 abgeschlossen sein wird. Mit diesem Artilleriesystem POLYPHEM
sollen auch die neuen Korvetten ausgerüstet werden.
Die Deutsche Luftwaffe
Für die TORNADOS und EUROFIGHTER werden Marschflugkörper mit großer
Reichweite gegen gehärtete Ziele erprobt. Dieser Marschflugkörper TAURUS soll noch 4
Meter dicken Beton durchschlagen und speziell Brücken zerstören können. Diese
maßgeblich von Daimler-Chrysler konzipierten strategischen Waffen sollen bereits ab 2003
der Bundeswehr zur Verfügung stehen. Bis zum Jahr 2011 sollen davon 685 angeschafft
werden.
Auf EU-Ebene geht es für den Langstreckentransport von Soldaten und Kriegswaffen um die
Anschaffung von insgesamt 75 Strategischen Transportflugzeugen, welche in der Luft
betankbar sein sollen. Airbus wird wohl demnächst den Auftrag bekommen.
Die Deutsche Marine
Die Deutsche Marine wendet sich in der Einsatzplanung
schwerpunktmäßig der Überwasserseekriegführung in fremden Küstengewässern zu, um auf
Land schießen zu können. Dafür entsteht derzeit bei Blohm + Voss in Hamburg das
Typschiff einer neuen Fregattenklasse, das Ende 2003 der Bundeswehr übergeben wird. Es
ist mit etwa 1,3 Mrd. DM die teuerste deutsche Kriegswaffe aller Zeiten. Zwei weitere
dieser Fregatten entstehen in Kiel und Emden. Zusammen mit neuartigen, speziell für den
Einsatz in flachen Küstengewässern konzipierten sogenannten Korvetten, sollen sie den
Verbund des Überwasserseekrieges von der Hohen See bis in die Küste hinein ermöglichen.
Die Beratung über den Bau der ersten 5 (von
insgesamt 15) Korvetten (Preis 2,8 Mrd. DM) wird im Bundestag noch vor der Sommerpause
erwartet.
Für den Unterwasserseekrieg entsteht derzeit bei HDW in Kiel das erste von acht neuen
U-Booten. Diese U-212 setzen mit der Brennstoffzellentechnik einen neuen Weltmaßstab im
U-Boot-Antrieb. Zusammen mit den deutschen Schwergewichtstorpedos SEEHECHT werden sie die
kampfstärksten U-Boote der Welt.
Generell gilt, dass für sämtliche Kriegswaffen Kunden im Ausland gesucht werden. Nicht
nur für die LEOPARD und TIGER, sondern auch für jene Waffen, die noch in der Entwicklung
sind. Das sind qualitative Schlüsseltechnologien für zukünftige Kriege.
Der Weltraum
Für die Führung der sogenannten "Krisenreaktionskräfte"
wird an der Satellitenkommunikationstechnik gearbeitet. Langfristiges Ziel ist es,
eine weltweite und vor allem, von den USA unabhängige, Führungsfähigkeit der
Kampfverbände zu erreichen. Voraussetzung dafür ist eine unabhängige sogenannte
"strategische Aufklärung". Deshalb wird das Projekt eines europäischen
Militärsatellitensystems wiederbelebt. Die für Anfang 2000 geplante Gründung des
deutsch-französisch-britischen Raumfahrtkonzerns ASTRIUM, an dem die deutsche DASA einen
50 %-Anteil hält, dient genau dieser Absicht.
Diese Entwicklungen sind alles andere als beruhigend.
Abrüstung - woran orientieren?
Mir ist hier die Aufgabe gestellt, konkrete Schritte in die Abrüstung
vorzuschlagen..
Ich denke, die vordringliche Aufgabe der deutschen Friedensbewegung muss es sein,
ersteinmal dazu beizutragen, die Bevölkerung umfassend über die Planungen und Absichten,
die horrenden Kosten und die verheerende Wirkung dieser Kriegswaffen zu informieren. Dies
muss insbesondere auch in denjenigen Städten geschehen, in denen diese Waffen hergestellt
werden.
Schwerpunkt muss es sein, die neuen Technologien zu verhindern. Denn sie stellen eine neue
Qualität von Waffen dar. Dazu zähle ich besonders die Korvetten, die Marschflugkörper
TAURUS, die Kampfdrohnen TAIFUN und das Artilleriepräzisionssystem POLYPHEM sowie die
Radar- Satelliten der Firma Dornier. Für diese High-Tech-Systeme neuer Qualität gibt es
bisher keine Herstellungsaufträge.
Was die Abschaffung der Bundeswehr insgesamt betrifft, brauchen wir Zwischenetappen,
gewissermaßen Markierungen auf der Wegstrecke.
Woran sollen wir uns, was die Abrüstung bestehender Kriegswaffen betrifft, orientieren?
Ich schlage vor, auf der Grundlage des KSE-Vertrages das größte Nicht-NATO-Land Europas,
Russland, als Bezugsgröße zu nehmen.
In allen schweren Waffensystemen des Heeres und der Luftwaffe hat die NATO in Europa
gegenüber Russland eine dramatische Überlegenheit. Die NATO liegt zwischen 60 und 200
Prozent in den wichtigsten Waffensystemen und bei der Personalstärke über dem russichen
Niveau; bei Überwasserkriegsschiffen sogar exakt bei 211 zu 36 und bei U-Booten bei 100
zu 50 nur in Europa, ohne die Seemacht USA einzubeziehen.
Die Abrüstung Deutschlands und auch der anderen NATO-Staaten Europas auf dieses geringe
Niveau könnte bis Mitte des kommenden Jahrzehnts erreicht sein und ergebe für
Deutschland einen Einspareffekt von mindestens 200 Mrd. DM schon in den nächsten 10
Jahren. Übrigens, Schweden macht es vor: Der schwedische Generalstab schlägt vor, bis
2004 die Zahl der Armeebrigaden von 13 auf 6 zu reduzieren, die Marine zu halbieren und
auch die Luftwaffe beträchtlich zu verkleinern.
Zusammengefasst:
Drei Schwerpunkte sollten uns beschäftigen:
An den Rüstungs- und Militärstandorten vor Ort für qualitative Abrüstung kämpfen und das mit dem Kampf gegen Sozialabbau, Renten- und Bildungsklau zu verbinden.
Mit einer kraftvollen bundesweiten Kampagne die Lieferung von 1000 deutschen Kampfpanzern für den Folter- und Kriegsstaat Türkei verhindern.
Den Kampf gegen die Herausbildung einer Militärmacht Europa kräftig intensivieren. Dazu muss ein europäisches Netzwerk der Friedensbewegten geknüpft werden.
Von Lühr Henken erschien im Oktober der noch
ausführlichere Beitrag: "Rüstungsprojekte der Bundeswehr nach dem Krieg"
in: Ulrich Cremer/Dieter Lutz (Hrsg.), Nach dem Krieg ist vor dem Krieg, Hamburg
(VSA-Verlag) 1999, S. 81-96.
Das Buch, das im Buchhandel DM 24,90 kostet, ist durch den Autor zum
Subskriptionspreis von DM 17,36
(inkl. Versand DM 20,11) erhältlich bei:
Hamburger Forum
für Völkerverständigung und weltweite Abrüstung e.V.
c/o Lühr Henken, Flotowstr. 6, 22083 Hamburg, Tel 22 26 29, Fax 22 77 867,
E-Mail LuehrHenken@t-online.de
Januar 2000 Der Humanist
erstellt von Heike Jackler