Die Reportage [Inhalt]
Der Humanist berichtet über Veranstaltungen und Aktionen
1.- 3. Oktober 1999 in Nürnberg
[Programm]
Komplexe Prozesse schaffen Abbild von der Umwelt
Letztes Jahr wurde das Symposium "Turm der Sinne" zum ersten Mal abgehalten. Es erhielt den Innovationspreis der Region Nürnberg 1988.
Jetzt fand die interessante Tagung zum zweiten Mal statt. Zwölf Experten hielten beim Symposiums "Turm der Sinne 99" in Nürnberg, organisiert vom HVD Nürnberg, einem interessiertem Publikum Vorträge über das Thema "Wie kommt die Welt in den Kopf?", um hochkomplizierte Vorgänge aus der Welt der Hirnforschung verständlich zu machen. Rainer Rosenzweig (Bild rechts) vom Veranstalter begrüßte die Zuhörer.
Einer der Referenten, Günter Niklewski, Chefarzt für Psychiatrie am Nürnberger Klinikum, schildert Patienten, die unter Halluzinationen leiden. Diese erleben oft wahre Horrorgeschichten. Da hört eine Frau Stimmen in sich, die ihr befehlen, sich vor die einfahrende Bahn zu werfen. Ein anderer kann sich vor panischer Angst nicht mehr rühren und sieht Käfer an der Wand hochkrabbeln. Niklewski bezeichnet dies als "Trugwahrnehmungen, die sowohl auf eine organische als auch auf eine psychische Störung hinweisen können".
Unter den Referenten war auch der Münchener Professor Ernst Pöppel zu finden, einer der bekanntesten Hirnforscher Deutschlands. Er stellt fest: "Den reinen Denkakt, das reine Gefühl gibt es nicht. Denn alle Nervenzellen stehen in ständigem Kontakt miteinander, tauschen Informationen aus. Es gibt kein Gefühl ohne Erinnerungen. Keinen Geruch, keinen Geschmack ohne Gefühl."
Für die Kommunikation der Nervenzellen untereinander sind sogenannte Transmitter als chemische Botenstoffe notwendig. Ist dieser chemische Haushalt gestört, funktionieren die Informationswege im Gehirn nicht mehr einwandfrei. Krankheiten wie Epilepsie oder Schizophrenie, von Religionsgläubigen oftmals als Besessenheit deklariert, sind also nichts weiter als Störungen der körpereigenen Chemie.
Doch können wir überhaupt die "Wirklichkeit" richtig wahrnehmen oder unterliegen wir ständig optischen Täuschungen? Als eindrucksvolles Beispiel ließ Professor Ernst Pöppel geometrisch-optische Täuschungen über Diaprojektor an die Wand werfen. Dem Publikum machte dieses Experiment schnell klar, dass unser Gehirn nur eine subjektive Realität, aber keine perfekte Abbildung der Gegenwart liefert. Es sah nicht nur jeder etwas anderes, sondern je nachdem, worauf sich das Auge konzentriert, erscheint bei mehrmaligem Betrachten desselben Bildes mal diese, mal jene Linie dunkler oder heller, liegt ein Objekt mal im Vorder- oder Hintergrund.
Hat als ein Mitmensch eine von der eigenen abweichende Wahrnehmung der sogenannten Wirklichkeit, muss derjenige nicht unbedingt falsch liegen. Das Gehirn fragt alle drei Sekunden nach Neuigkeiten, fährt immer wieder ein Update. So werden Infos zeitversetzt verarbeitet. "Wer versucht, sich eine Telefonnummer zu merken, und dabei (innerhalb des Drei-Sekunden-Updates) unterbrochen wird, hat die Nummer gleich wieder vergessen", sagt Pöppel, der das Phänomen des Drei-Sekunden-Rhythmuses entdeckt hat.
Mit dem "Locked-in-Syndrom" beschäftigt sich die Tübinger Biologin Andrea Kübler. Dieses Syndrom ist eine Nervenkrankheit, die durch eine Hirnstammblutung ausgelöst wird. Dadurch ist die motorische Muskulatur ganz oder teilweise lahmgelegt, während das Großhirn funktionsfähig bleibt. Der Mensch ist in seinem Körper gefangen, die Fähigkeit der Kommunikation, die für uns Menschen lebenswichtig ist, geht verloren. Ohne die Möglichkeit zu Gesten und Sprache ist der Kontakt zur Außenwelt abgeschnitten. Mit diesen Menschen beschäftigt sich ein Forschungsprojekt in Tübingen.
"Die Patienten lernen bei uns, ihre (langsamen) Hirnströme zu kontrollieren, also willentlich zu beeinflussen, um so mit Hilfe eines Computers zu kommunizieren", erklärt Andrea Kübler. Bei diesem komplizierten Verfahren sind die Patienten mit Elektroden am Kopf an einen Computer angeschlossen. Sie müssen mit Hilfe ihrer Gedanken versuchen, computertaugliche Entscheidung zu treffen. Dies erfordert langwieriges Training des Gehirns.
Diesen Menschen ist es wichtig, ihre Gedanken und Gefühle wieder mitteilen zu können. Die Kommunikation mit ihren Mitmenschen steht für sie im Vordergrund, weniger die Fähigkeit, technische Dinge per Computer erledigen zu können.
Zusammenfassender Bericht des
Einführungsvortrags von Prof. Dr. Ernst Pöppel, Professor für Psychologie, Vorstand des
Inst. für Medizinische Psychologie und des Humanwissenschaftlichen Zentrums der
Universität München. Von ihm liegen etwa 250 Veröffentlichungen vor, davon zwei
populärwissenschaftliche (u.a.: "Lust und Schmerz").
Prof. Dr.
Ernst Pöppel gilt als Entdecker des Blindsehens als implizite Informationsverarbeitung.
Blindsehen entsteht zum Beispiel nach einem Gehirnschlag, nach dem Patienten Teile ihres
Gesichtsfeldes nur noch schwarz wahrnehmen. Bei Experimenten mit Licht, Farben, etc. wurde
jedoch festgestellt, dass die Patienten trotz des schwarzen Fleckes und trotz ihrer
Angabe nichts gesehen zu haben, die richtigen Farben "erraten" haben.
Titelthema seines Vortrages:
Graue Masse, bunte Welt
Wahrnehmungsprozesse als Thema der Hirnforschung
Seit etwa erst 700-800 Millionen Jahren gibt es in der Evolutionsgeschichte so etwas wie "Gehirne". Warum nun Hirnforschung?
Um etwas über uns selbst zu erfahren (die beiden Gehirnhälften sind bei Frauen stärker miteinander vernetzt; das Gehirn von Männern ist durchschnittlich minimal schwerer als das von Frauen, was auf einen höheren Fettanteil zurückgeführt wird, etc.)
Aus medizinischen Gründen (Alzheimer, Parkinson, Schmerzen, etc.)
Um zu verstehen, wie unser Gehirn funktioniert und um daraus Anwendungen zu lernen (z.B. ist die Intensität von Händeschütteln bei Begrüßungen bei fast allen Kulturen nach etwa drei Sekunden am stärksten. Die verbale Kommunikation ist nach einem ähnlichen Zeitschema aufgebaut, die "Musik" der Sprache ist ein Teil davon [siehe auch Gedichte]. Prof. Dr. Ernst Pöppel spricht in diesem Zusammenhang von einem Zeitfenster, in welchem die Wahrnehmung erfolgt und verarbeitet wird.)
Was wir sehen, ist nicht die bloße Widerspiegelung der Welt um uns in unserer,Wahrnehmungswelt. Mit einfachen Experimenten zeigt Prof. Dr. Ernst Pöppel, dass Wahrnehmen ein aktiver Prozess ist. Zum Beispiel schaffen sogenannte "Nachbilder" (beim konzentrierten Betrachten von bestimmten Bildpunkten) Überlagerungen, die zudem von jedem der beiden Augen unabhängig wahrgenommen werden. Die Ergebnisse verblüffen die gesamte Zuhörerschaft. Man sieht Bilder, die eigentlich gar nicht vorhanden sind.
Prof. Dr. Ernst Pöppel zeigt mit seinen Experimenten auf, dass wir
eigentlich selber unsere Wahrnehmungswelt gestalten. Diese von uns gestaltete Welt ist
natürlich nicht unabhängig von der Welt um uns, aber wir sind ihr nicht ausgeliefert. In
Schritten von wenigen Sekunden findet eine Rückversicherung statt, ob das, was die
augenblickliche Wahrnehmung bestimmt, noch gültig ist.
Gehirne sind vom Aufbau her auch nicht mit Computern zu vergleichen. Die Gehirnprozesse -
ausgelöst z.B. durch Rezeptoren wie Augen, Ohren , Nase, Haut - finden nicht auf einer
Ebene statt. Das gesamte neuronale System (räumlich) wird hierbei in Bewegung (Divergenz)
versetzt.
Noch einige Zahlen:
Die Rezeptoren (s.o.) des Körpers bestehen etwa aus 500 Millionen Zellen (davon entfallen auf die Haut etwa 300 Millionen).
Das Gehirn umfasst etwa 100 Milliarden bis 1 Billion Zellen.
Die Bewegungszellen (motorische Zellen, z.B. Muskeln) kommen auf eine Anzahl im Körper von etwa 2 Millionen.
Fotos: Herbert Ferstl
Bericht: Herbert
Ferstl, Heike Jackler
Copyright © Oktober 1999 Der Humanist
erstellt von Heike Jackler