Das Märchen von der christlichen Nächstenliebe
von
Thomas Schulz
 

In einer fortlaufend weltlicher werdenden Gesellschaft mußten die Kirchen, ihres Überlebens wegen, verstärkt neue Wege zum Schäfchenfangen, Machterhalt und zur Vermögensbildung bestreiten. Dabei entdeckten sie ihr soziales „Gewissen.“ Ein solches Engagement läßt sich gerade in der heutigen, immer rauher werdenden Zeit, gut an die Mitglieder verkaufen. An die Gläubigen und ebenso an Jene, die die „Fabel vom Jesuskind“, wie sich Papst Leo IX. auszudrücken pflegte, nicht mehr ernst nehmen können.

Stellen wir sie kurz vor, die Ausgeburten der christlichen Nächstenliebe: der evangelische Sozial-Konzern heißt Diakonie und der Katholische trägt den wohlklingenden Namen Caritas. Beide betreiben Kindergärten, Behinderten-, Pflege- und Altenheime sowie einige Krankenhäuser. Insgesamt 54000 Stück an der Zahl. Weltliche Träger wie der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband, das Deutsche Rote Kreuz und die Arbeiterwohlfahrt müssen sich mit weniger begnügen. Sie unterhalten im Vergleich zusammen 20000 Einrichtungen. Bei der Anzahl der über 3 Millionen Betten und Plätze liegt der Unterschied noch höher: allein 2,3 Millionen sind kirchlich.

Nun soll der göttliche Einsatz auf dem sozialen Sektor nicht grundsätzlich herabgewürdigt werden. Auch wir sind der Ansicht, das jeder Platz wichtig und erhaltenswert ist.

Ja, unsere Freunde, die Christenmenschen sind recht umtriebig und rühren für ihre sozialen Wohltaten fleißig die Werbetrommel. Tatsächlich entsteht bei vielen Mitbürger der Eindruck, daß die 40 Milliarden DM, die Caritas und Diakonie jährlich verschlingen, aus dem Füllhorn der Kirchen fließen.

Die Wahrheit, sie sieht anders aus: ganze 8%, in DM ausgedrückt 1,3 Milliarden, aus den Mitteln der Kirchensteuer überweisen beide Großkirchen jährlich in ihre sozialen Einrichtungen. Zu 70% werden sie aus Leistungsentgelten wie Pflegesätzen und Elternbeiträge bezahlt. Vater Staat ist mit 20% dabei. Neubauten wie Kindergärten und Altenheime werden fast vollständig von den Kommunen finanziert und dann in kirchliche Trägerschaft übergeben. Ein Beispiel vor Ort aus der jüngeren Vergangenheit mag dies verdeutlichen. Vor fünf Jahren gab es in Uelzen Verhandlungen zwischen Stadt und Kirche wegen der Finanzierung eines Kindergartenanbaus. Die Kommune sollte 850.000 DM zuschießen, die Kirche 50.000 DM. Einigen Ratsherren, sogar christlich-unionierten, erschien das doch ein bißchen wenig und forderten eine größere Eigenbeteiligung. Aber die Kirche feilschte tapfer um jeden Pfennig. Außer einer Zusage der St.-Johannes-Kirchengemeinde, sich an den künftigen Unterhaltungskosten stärker zu beteiligen, kam nichts heraus.

Doch trotz einer weitaus überwiegenden Fremdfinanzierung ist das klerikale Gejammer über sinkende Steuereinnahmen groß. Man redet über Schließungen und Personalabbau, weil der Erlös aus der Kirchensteuer aufgrund der drastisch gestiegenen Austrittszahlen gesunken ist. Die Einnahmen aus dieser sind aber seit Jahren fast unverändert. Allein letztes Jahr 17 Milliarden DM. Einige Theologen und christliche Politiker fordern immer wieder zum Ausgleich eine Zwangsabgabe für Konfessionslose. Ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit liefert Herr Renner, Vorsitzender der Jungen Union in Baden-Württemberg. In einer für manche Christen und Christ„demokraten“ typischen Ignoranz und Boshaftigkeit diffamierte er Konfessionslose als Drückeberger, die sich unsozial der Allgemeinheit gegenüber verhielten. So ließ er 1994 verlauten: „Wer die Kirche verläßt, läßt sie auch bei der Bewältigung sozialer Aufgaben im Stich, die aus der Kirchensteuer finanziert werden.“ Die Zurschaustellung von vermeintlichen Sündenböcken soll unter anderen dazu dienen, um von der eigenen unsozialen, gegen große Teile der Bevölkerung gerichteten Politik, abzulenken. Schließlich ist „das im Stich lassen beim Bewältigen sozialer Aufgaben“ ein Markenzeichen der seit 15 Jahren herrschenden CDU. Einer Partei, in der das „C“ für „christlich“ steht. Im Originalton Renner heißt es weiter: „Um den fiskalischen Sog aus der kirchlichen Gemeinschaft zu stoppen, sollten Konfessionslose künftig mit einer Karitativsteuer belastet werden, die der Höhe der Kirchensteuer entspricht.“ Frecher geht's wohl nicht. Entweder lügt er bewußt oder er hat schlicht und einfach keine Ahnung. Beide Optionen sind bei Politikern nicht ungewöhnlich. Noch einmal zur Erinnerung: Nur 8% der Kirchensteuer werden für soziale Aufgaben ausgegeben. Der weitaus größte Teil der jährlich eingesackten Steuer , wird, je nach Konfession 60 bis 70 %, für Gottes Fußvolk auf Erden, den Priestern und Pastoren verwendet. Ein Pfarrer bekommt monatlich zwischen 5500 und 6500 DM. Soviel zum Thema Finanzen.

In ihren Sonntagspredigten schwadronieren die beiden großen Kirchen gerne von sozialer Gerechtigkeit, christlicher Nächstenliebe und gegen Unterdrückung. Wie aber schlägt sich diese bei den lohnabhängig Beschäftigten in Christi Diensten bei Diakonie und Caritas nieder? Gottes eigene Firmen sind sogenannte „Tendenzbetriebe“. Im Klartext bedeutet das: Wer als Krankenpfleger oder Kindergärtnerin nicht glaubt oder vorgibt zu glauben, sowie nicht dementsprechend handelt und sein Leben gestaltet, wie es ihm oder ihr die Knechte des Herrn vorbeten, läuft Gefahr, gefeuert zu werden. So ist zum Beispiel der Kirchenaustritt eine schwere Sünde wider die göttliche Ordnung und kann ein Kündigungsgrund sein. Jedenfalls behält sich die Kirche diese Möglichkeit in vielen Arbeitsverträgen vor. Wer nicht der gewünschten Konfession angehört, kommt bei manchen Einrichtungen (z.B. Lobetal), gar nicht erst in den Genuß eines Arbeitsplatzes unter himmlischer Führung. Und wer vom Himmel geführt wird, braucht auch keine Gewerkschaften. Vater, Sohn und Heiliger Geist werden es schon im Sinne der Lohnsklaven richten. Darum schließen die meisten irdischen Stellvertreter der Drei, die doch Eins sind, keine Tarifverträge mit den Berufsverbänden ab. Gottes Reich, im Himmel wie auf Erden , eine gewerkschaftsfreie Zone. Amen. Jedes Ausbeuterherz wird vor Freude höher schlagen.

Welche Auswirkungen es hat, „Arbeitnehmerin“ 2. Klasse zu sein, erfuhr eine Physiotherapeutin bei den Lobetal-Anstalten in einer Stadt im Nordosten Niedersachsens. Nachdem sie einige Zeit dort gearbeitet hatte, wurde ihr von Vorgesetzten vorgeworfen, keine „freiwilligen“ Tätigkeiten zu übernehmen. Das wäre dort schließlich so üblich. Diese Tätigkeiten bestehen unter anderen im Vorbereiten von Gottesdiensten oder im Betreuen von Jugendgruppen und ähnliches. Dinge, die ihren eigentlichem Beruf ganz und gar wesensfremd sind. Die junge Frau lehnte unter Hinweis auf ihre berufliche Auslastung und eigener körperlicher Beschwerden dieses Ansinnen ab. Daraufhin wurde ihr in mehreren Gesprächen bedeutet, das es besser wäre zu kündigen oder obengenannte Tätigkeiten zu übernehmen. Die Mitarbeiterin ging, nachdem der Druck immer stärker wurde, zu ihrer Gewerkschaft, der ÖTV. Diese führte daraufhin ein Gespräch mit den zuständigen Stellen bei Lobetal. Dort war allerdings von den „freiwilligen“ Aufgaben keine Rede mehr. Als Grund wurden vielmehr die krankheitsbedingten Fehlzeiten angegeben. Die Unterredung blieb ohne konkretes Ergebnis. Die Schikanen gingen weiter. So wurde ein beantragter Bildungsurlaub abgelehnt. Als Begründung wurde angegeben, daß die Mitarbeiterin von Seiten der Lobetal-Anstalten bereits an einer berufliche Fortbildung für Physiotherapeuten teilgenommen hatte. Da so etwas mit Bildungsurlaub nun gar nichts zu tun hatte, ging die Dame zusammen mit der ÖTV vor's Arbeitsgericht. Bevor es zum Prozeß kam, gab der Gegner klein bei und bewilligte den Sonderurlaub. Da anschließend der christliche Psychoterror nicht besser wurde, beschloß die „Arbeitnehmerin“ ihren Dienstherren den Rücken zu kehren und sich eine Arbeit in toleranterer Umgebung zu suchen.

Doch es soll nicht der Eindruck entstehen, daß es in den kirchlichen Tendenzbetrieben überhaupt keine Mitbestimmung der Beschäftigten gibt. Es gibt sie tatsächlich, wenn auch nur eingeschränkt gegenüber nichtkirchlichen Betrieben. Sie wird über die sogenannte Mitarbeitervertretung geregelt.

Die Mitarbeiervertretung, kurz MAV genannt, ist halt ein notgedrungenes Zugeständnis an unsere relativ offene Gesellschaft. Kirchlicherseits könnte man auch ohne sie gut zurechtkommen und viel besser nach Gutsherrenart mit den Beschäftigen umgehen. Es gab in der jüngeren Vergangenheit Verhandlungen zwischen ÖTV und Kirche. Die Gewerkschaft wollte endlich als regulärer Verhandlungspartner anerkannt werden, um den Mitarbeitern und ihren MAV's den Rücken zu stärken. Allerdings scheiterten die Gespräche vorläufig an der mangelnden Kompromißbereitschaft der Diener Gottes. Auch im Kleinen zeigt man sich wieder - oder immer noch - hart. So standen im letzten Jahr Neuwahlen zur MAV in einem kirchlichen Altenheim bei Celle an. Eine der Kandidatinnen versprach sich ihr Seelenheil bei der Konkurrenz und gehörte der islamischen Religionsgemeinschaft an. Sie war schon in in den vorangegangenen vier Jahren das einzige Mitglied in der MAV und hatte deutlich die Interessen der Beschäftigten vertreten. Natürlich sehr zum Mißfallen der Heimleitung. Und diese erinnerte sich daran, daß die Evangelische Kirche Deutschlands 1992 nochmals bekräftigt hat, das nichtchristliche Mitarbeiter in den Tendenzbetrieben nicht das passive Wahlrecht besitzen. Ganz offen wollte die Leitung nun doch nicht gegen die Dame vorgehen und man versuchte die anderen Bediensteten aufzuwiegeln. Laut Gesetz wären sie auch zu einem Einspruch berechtigt gewesen. Die Obrigkeit wäre fein raus gewesen, nur die Beschäftigten spielten nicht mit. Daraufhin übte die kirchliche Heimleitung Druck auf den Wahlvorstand aus. Dieser schloß die junge Muslimin von der Wahl aus. Die Kollegen und Kolleginnen waren sehr verärgert und zeigten sich solidarisch mit Ihr. Neue, womöglich den Leitern genehme Kandidaten fanden sich nicht. Seit dem gibt es in diesem Altenheim keine Mitarbeitervertretung mehr. Wir vermuten, daß dieses Ergebnis im Sinne der Heimleitung ist.

Ungewöhnlich am eben gehörten Beispiel war, daß die muslimische junge Frau überhaupt in die MAV gelangen konnte. Bei den Lobetal-Anstalten hätte sie nicht mal eine Anstellung gefunden. Diese stellen nur christliche Mitbrüder und -schwestern ein.

Zu den Problemen der Beschäftigten und Gewerkschaften mit kirchlichen Betrieben haben wir ein Interview mit Herrn Euskirchen vom Kreisverband der ÖTV in Celle geführt.

Wir möchten abschließend noch folgendes anmerken. Die Kirche maßt sich an, die führende Moralinstanz unserer Gesellschaft zu sein und Mißstände kritisieren zu dürfen. In ihren Sozialpapieren fordern sie mehr Partnerschaft zwischen den abhängig Beschäftigten und den sogenannten Arbeitgebern. Doch wer seine eigenen Mitarbeiter teilweise wie Leibeigene behandelt, sollte Systemkritik doch lieber fachkundigeren Mitmenschen überlassen. Die christlichen Religionsgemeinschaften machen sich hier ein weiteres Mal unglaubwürdig.