Die christlichen Wurzeln des Nationalsozialismus


Millenaristische Bewegungen und das Reich Gottes - Teil 6

Christliche Rassenhygiene vor der Machtergreifung

Die Beseitigung von Insassen sogenannter Irrenanstalten und anderer Heime Pflegebedürftiger unter dem Stichwort "Euthanasie" zählt zu den bekanntesten Verbrechen, die heute den Nationalsozialisten angelastet werden. Weniger bekannt ist, daß es bereits lange vor 1933 auf kirchlicher Seite zu lebhaften Diskussionen um die Behandlung "lebensunwerten Lebens" gekommen war. Die beteiligten Christen brauchten da gar nicht erst Nachhilfe durch die Nationalsozialisten, waren sie doch vielmehr die Vordenker der Sterilisierung, am Ende auch Beseitigung von "Erbkranken" und anderen, dem "gesunden Bevölkerungsteil" oder dem Staat "lästigen Existenzen" in den von ihrer Kirche betriebenen Einrichtungen. Von politischem Zwang durch die Nazis kann erst recht keine Rede sein.

Die Unterbringung von "Geistesschwachen" oder "Schwachsinnigen" hatte ganz allgemein nicht unbedingt allein das Wohl der Betroffenen im Auge. Das zeigt sich beispielsweise an dem Kinder- und Pflegeheim Vorwerk in Lübeck, das "in vieler Hinsicht typisch für diakonische Einrichtungen in der Zeit des Nationalsozialismus" ist [SD169]. Schon in seinem ersten Bericht über seine Tätigkeit begründet Anstaltsleiter Paul Burwick die Anstaltsunterbringung seiner Pfleglinge im Jahr 1914 (!)

Diese erwachsenen Zöglinge bedürfen eben des Schutzes in ganz besonderem Maße. Die sittliche Gefahr nach den verschiedensten Richtungen droht diesen Menschen mit furchtbarster Gewalt. Sie sind haltlos und unterliegen gar zu leicht. Rassenhygiene und christliche Liebe fordern kategorisch den Schutz dieser Armen, der ihnen eben nur gewährt werden kann in einem Hause, wo Erziehung und Ausbildung der - wenn auch nur schwachen - Kräfte gewährleistet ist.
[SD185]

Die angebliche Sorge um die Volksgesundheit entpuppt sich dabei nicht zuletzt als aus "kleinbürgerlicher Leibfeindlichkeit und sexueller Doppelmoral" [SD185] entsprungen, indem etwa die Eindämmung der Prostitution als Begründung herhalten muß:

Bei der weiblichen schwachsinnigen Jugend ist in gewisser Weise die sittliche Gefahr noch größer als bei der männlichen, darum ist aus rassehygienischen Gründen ihre Unterbringung in Anstalten unerläßlich.
[SD184]

Aus ihnen (den älteren Zöglingen) rekrutiert sich leicht und oft die Prostitution, sie bedeuten [sic], und ich denke in Sonderheit an die weibliche schwachsinnige Jugend, für unser Volk eine schwere rassehygienische Gefahr.
[SD183]

Diese "sittliche Gefahr" der "Prostitution" (gemeint ist u.a. etwaiger Nachwuchs der Pfleglinge, bei denen es sich hier um sog. Schwachsinnige, also nicht um Geisteskranke handelt!) wird schließlich zur Bedrohung der Gesellschaft hochstilisiert, so daß Burwick mehr als ein Jahrzehnt später, im Jahresbericht 1932, über seine Zöglinge schreiben kann:

Mit ganz besonderem Nachdruck muss immer wieder darauf gewiesen werden, daß diese Menschenkinder für Gesellschaft und Staat eine Gefahr bedeuten. Durch die Geschlechter werden Minderwertigkeit, Trostlosigkeit, ja Verbrechen geschleppt.
[SD186]

Schließlich werden Konsequenzen gefordert, wie sie später auch in nationalsozialistischer Propaganda kaum anders formuliert worden ist. Schon im Jahresbericht 1928/29 der Anstalt hatte es geheißen:

Eugenik, Rassenhygiene, Bewahrungsgesetz, ein Akkord, der weit, weit stärker tönen muß, als er bisher erklingt, der unser Volksleben beeinflußen muß in bestimmendster Weise. Forderungen sind es, die ein Volk aus vitalsten Interessen erheben muß, mit größtem, mit tiefstem Ernst.
[SD186]

Mit diesen Anschauungen stand Burwick freilich keineswegs allein, er vertritt vielmehr, was durchaus dem Zeitgeist entsprach.

Schon 1926 hatten anläßlich der Jahresversammlung der "Vereinigung Katholischer Seelsorger an deutschen Heil- und Pflegeanstalten" Beratungen stattgefunden "über vorbeugende Fürsorge zur Herabminderung der gewaltig ansteigenden Zahl lebensunwerter Menschenleben".
Als Gast hatte an der Jahresversammlung auch der Moraltheologe Dr. Joseph Mayer teilgenommen.
...
1927 wird Mayer Hauptschriftleiter der Zeitschrift "Caritas, Zeitschrift für Caritaswissenschaft und Caritasarbeit". 1927 (!) erscheint auch sein Buch "Gesetzliche Unfruchtbarmachung Geisteskranker". Es gehört zum Schlimmsten, was über Kranke und Behinderte jemals geschrieben worden ist. Drei Zitate aus seinem Werk genügen:
"Die Geisteskranken, die moralisch (!) Irren und andere Minderwertige haben so wenig ein Recht, Kinder zu erzeugen, als sie ein Recht haben, Brand zu stiften."
"Erblich belastete Geisteskranke befinden sich in ihrem Triebleben auf der Stufe der unvernünftigen Tiere."
"Wenn darum ein Mensch der ganzen Gemeinschaft gefährlich ist und sie durch irgendein Versehen zu verderben droht, dann ist es löblich und heilsam ihn zu töten, damit das Gemeinwohl gerettet wird."
[KS99]

Wohl nicht zufällig erinnert diese Sprache aus dem Wörterbuch des Unmenschen auffällig an gewisse Passagen der Heiligen Schrift, die ganz ähnliche Worte für jene Menschen findet, die von der damaligen Urgemeinde bekämpft wurden.

Der Zweite Brief des Petrus, 2
12 Aber sie sind wie die unvernünftigen Tiere, die von Natur dazu geboren sind, daß sie gefangen und geschlachtet (!) werden; sie lästern das, wovon sie nichts verstehen, und werden auch in ihrem verdorbenen Wesen umkommen ...

Auch unter jenen Würdenträgern der Kirche, die heute als Widerstandskämpfer ausgegeben werden, ist dies Denken verbreitet. So zum Beispiel der Münchner Kardinal Faulhaber, nach dem noch heute Plätze in der Bundesrepublik Deutschland benannt sind:

Er [Faulhaber] habe Muckermann gegenüber eingeräumt, daß sich der Staat gegen Erbkranke schützen dürfe, aber nur durch Internierung der betreffenden Menschen. Muckermann habe daraufhin geantwortet, dafür sei die Sozialdemokratie nicht zu haben, weil das zuviel Geld koste. Faulhabers Schluß, Ende 1933:
"Heute fällt diese Rücksicht auf die Sozialdemokratie weg, und da der Staat für die Schutzhäftlinge (!) eigene Lager (!) eingerichtet hat, kann er es ebensogut für diese Schädlinge der Volksgemeinschaft, die er durch Sterilisierung unschädlich machen will."
[KS101]

Im April 1931 lädt Hans Harmsen vom Central-Ausschuß (CA) für die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche, zur "Teilnahme an der ersten Fachkonferenz für Eugenik". Kranke, Behinderte, Fürsorgebedürftige werden nun schlicht als minderwertig oder asozial abgehandelt ...

Die "Fachkonferenz für Eugenik" - der Name wird sich im Laufe der Jahre den politischen Umständen entsprechend wandeln - tagt vom 18. bis 20. Mai 1931 in der hessischen Diakonenanstalt Hephata in Treysa. Acht Ärzte und zehn Anstaltsleiter sind der Einladung gefolgt. Die Teilnehmer vereinbaren strenge Vertraulichkeit [...]
In der Diskussion "über Vernichtung lebensunwerten Lebens" (so der Protokolltext) meint Harmsen: "Könnten wir eine Kommission anerkennen, die über das Leben von Menschen zu entscheiden hätte? Dem Staat geben wir das Recht, Menschenleben zu vernichten - Verbrecher und im Kriege. Weshalb verwehren wir ihm das Recht zur Vernichtung der lästigsten Existenzen?"
Das Protokoll enthält keinen Hinweis, daß einer der zehn Anstaltsleiter eine solche Frage unter Christenmenschen für gotteslästerlich hält...
In der Treysaer Diskussionsrunde nimmt immer wieder der Vertreter des Centralausschusses gegen die Pfleglinge der Inneren Mission Partei. Es sei fraglich, meinte Harmsen, ob "wir mit einem ungeheuren Kostenaufwand die Lebenswahrscheinlichkeit der in unseren Anstalten befindlichen Pfleglinge über das Maß der freien Außenwelt zu kultivieren haben." Und er fügt hinzu: "Die Sterblichkeit in unseren Anstalten ist wesentlich günstiger (!) als draußen."
...
"Würde nicht schon dadurch die Frage gelöst sein, daß wir für diese ganzen Gruppen auf ärztliche Hilfe verzichten?"
...
Am nächsten Tag, dem 19. Mai 1931, steht die Sterilisation auf dem Tagesprogramm. Das Eröffnungsreferat hält Dr. Otmar v. Verschuer vom Kaiser - Wilhelm - Institut für Anthropologie in Berlin. Verschuers bekanntester Assistent wurde später Dr. Josef Mengele, der in Auschwitz Zwillinge und "Zwerge" (Kleinwüchsige) mit Menschenversuchen folterte...
"Es wird von uns als Christen, dem Vorbild des Meisters folgend, verlangt, daß wir bereit sind, unser Leben zu opfern im Dienst der Nächstenliebe. Die Nächstenliebe dehnt sich aus auf die Kinder, die geboren werden. Wir sind deshalb verpflichtet, den Kreis der Menschen auszudehnen auf die noch nicht Geborenen, und ich halte es für berechtigt, von Menschen ein geringeres Opfer zu verlangen, als Opferung des Lebens, nämlich auf Nachkommenschaft zu verzichten, aus Liebe für die Kinder, die als krank zu erwarten sind, so daß aus christlicher Nächstenliebe heraus die Sterilisierung als gerechtfertigt angesehen werden muß."
[KS84-87]

Auch die "Vernichtung lebensunwerten Lebens" wurde also von christlichen Theologen der Diakonie bereits vor der nationalsozialistischen Machtergreifung diskutiert.
Vor allem die Pastoren befürworten die Sterilisierung. Pastor Friedrich von Bodelschwingh, Leiter der größten deutschen Anstalt, meint (zitiert wird buchstabengetreu aus dem Protokoll):

"Im Dienst des Königreichs Gottes haben wir unseren Leib bekommen.... 'Das Auge, das mich zum Bösen verführt usw.' zeigt, daß die von Gott gegebenen Funktionen des Leibes in absolutem Gehorsam zu stehen haben, wenn sie zum Bösen führen und zur Zerstörung des Königreiches Gottes in diesem oder jenem Glied, daß dann die Möglichkeit oder Pflicht besteht, daß eine Eliminierung (!) stattfindet. Deshalb würde es mich ängstlich stimmen, wenn die Sterilisierung nur aus einer Notlage heraus anerkannt würde. Ich möchte es als Pflicht und mit dem Willen Jesu konform ansehen [sic!]. Ich würde den Mut haben, vorausgesetzt, daß alle Bedingungen gegeben und Schranken gezogen sind, hier im Gehorsam gegen Gott die Eliminierung an anderen Leibern [sic!] zu vollziehen, wenn ich für diesen Leib verantwortlich bin."
[KS88]

Zwar lehnt am Ende die Fachtagung die "Vernichtung lebensunwerten Lebens" ab. Doch als es schließlich zum Massenmord an Patienten in deutschen Anstalten kommt, teils durch Verhungernlassen, teils durch Giftspritzen und Vergasung, haben auch hier Vertreter der Kirche nicht nur nicht protestiert, sondern sich, manchmal zögerlich, manchmal aber auch willig und wie selbstverständlich, diesem Liebesdienst zur Verfügung gestellt.

Zu den Anstalten, die sich dazu hergeben, von 1942 bis 1945, d.h. bis zum Einmarsch alliierter Truppen, behinderte Kinder und Erwachsene verhungern zu lassen oder zu vergiften, gehört die Kreisirrenanstalt Irsee im Allgäu, Zweiganstalt der Anstalt Kaufbeuren. Hier pflegen Ordensschwestern der Kongregation vom Hl. Vinzenz von Paul, dem Begründer der neuzeitlichen Caritas. In Irsee versuchen die Nonnen den Verhungernden hin und wieder mit Zusatznahrung zu helfen. Sie liefern aber die Opfer auf jener Station ab, wo sie kurz darauf vergiftet werden. Im Einzelfall sehen die Schwestern auch zu, wenn die Opfer gespritzt werden. Andere schauen weg oder verlassen vorher das Zimmer. Die Oberin, die barmherzige Schwester Irmengard, 1948 in einer Aussage:
"Ich war ... selbst mit dabei, als Dr. Gärtner die Einspritzungen vorgenommen hat." (Aussage vom 15.5.48 im Verfahren Ks. 1/49 der StA Augsburg).
Im April kommt die Krankenschwester Paulina Kneißler nach Irsee, die zuvor in den Vergasungsanstalten Grafeneck und Hadamar beim Massenmord geholfen hat. Die Schwester, die noch 1934 in einer evangelischen Kirchengemeinde Mitglied des Kirchenchores und Helferin im Kindergottesdienst gewesen war, hatte den Auftrag, in Irsee Kranke zu töten. Der katholische Geistliche trifft mit ihr eine Vereinbarung:
"Meine Forderung an 'Schwester' Pauline hatte ... den Erfolg, daß sie mir namentlich jene Patienten mitteilte, welche (mit den Sterbesakramenten) versehen werden mußten."
[KS185]


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Nachweise
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